"Von der langen Reise..." von Henriette Dushe

Die Schikanen in der DDR im Rückblick

Die Autorin Henriette Dushe, aufgenommen am 16.04.2014 in Berlin. Foto: /dpa
Die Dramaturgin und Autorin Henriette Dushe: Ihr Text "Von der langen Reise..." wurde in Essen uraufgeführt. © picture-alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich
Von Christiane Enkeler · 14.06.2015
Ein Aufbruch, der nie zur Ankunft wird: "Von der langen Reise..." von Henriette Dushe erzählt die Geschichte einer Familie, die am geteilten Deutschland zerbricht. Ivna Zic hat die Uraufführung am Schauspiel Essen fast wie ein Hörspiel inszeniert.
Das neue Stück der 1975 in Halle an der Saale geborenen Henriette Dushe erzählt die Geschichte eines Aufbruchs, der nie zu einer Ankunft wird. "Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke" wird erzählt von vier Frauen: einer Mutter, die immer Mutter bleibt, und ihren vier Töchtern, die keine Namen tragen.
Jedes Inszenierungsteam muss neu unter sich ausmachen, wie sich die Charaktere der Töchter zusammensetzen.
Alle fünf zusammen erinnern im Rückblick die Schikanen in der DDR vor der beantragten Ausreise, den Grenzübertritt selbst und letztendlich, wie eine Familie am geteilten Deutschland zerbricht, obwohl sie die Ausreise in den Westen physisch bewältigt hat. Treibende Kraft ist der Vater. Doch genau der ist in Dushes Text eine Leerstelle: Er spricht nicht selbst. Er wird erzählt, eine zwiespältige Figur.
Er, der schon zu Beginn den Zweifel der Mutter zerstreuen will, zweifelt im selben Atemzug an ihren Worten. Er, der die DDR verlassen will, verschmilzt während des Ausreiseprozesses mit der Schreibmaschine, mit der er Packliste um Packliste tippt, aber er tippt immer weiter, das System hat ihn "geschluckt".
Eine mysteriöse kleine Schachtel
Es geht vor allem auch immer wieder um eine verschwundene kleine Schachtel, die ursprünglich Streichhölzer für den Weihnachtsbaum beinhaltet hat (Weihnachten, ein großes Versprechen, wie der Westen). In der Schachtel wurde schließlich ein unendlich kleinteiliges Puzzle aufgehoben. Wo die Schachtel ist, daran kann sich niemand erinnern. Nur dass sie ähnlich wertvoll ist wie das verschließbare Tagebuch oder die Fotoalben.
Die Schachtel steht also für Versprechen und Erinnerung gleichzeitig, und während des Grenzübertritts wird sie Quelle von großen Ängsten, als die Grenzer sich besonders lange mit der Untersuchung dieser Schachtel aufhalten. Wie sich die Grenz-Situation schließlich auflöst, das erfahren wir nicht. Vieles bleibt in der Schwebe. Viele Sätze werden nicht beendet.
Eine Schwester wird in der Schule von den anderen Kindern auf Kommando der Lehrerin gemeinschaftlich ausgelacht, weil sie ausreisen will. Und die Mutter wird den Staat nicht los, weil er sie in ihre Träume bis in den Westen verfolgt: schwere Schritte auf der Treppe, die Angst, "geholt" zu werden mitsamt den Kindern.
Solche traumatischen Szenen inszeniert Regisseurin Ivna Zic formal eher streng. Mit einem riesenhaften Schatten der Lehrerin, der das Mädchen bedroht.
Und während des Traums hocken auf metallenen, Wachtturm ähnlichen Kletterelementen vier von fünf Frauen, von unten angeleuchtet, und bewegen sich kaum. Auch die klug geschriebene Anfangsszene ist mit viel Vertrauen in den Text fast wie ein Hörspiel inszeniert: Die Darstellerinnen sitzen mit dem Rücken zum Publikum weit über die Bühne verteilt; im Halbdunkel bewegen sich nur schwach die Schatten von ein paar Grashalmen. Rhythmus und motivische Fäden des Textes erschließen sich über solche Strenge im Bild gut.
Fortsetzung einer Zusammenabeit
Henriette Dushe und Ivna Zic haben an genau diesem Text schon vor einiger Zeit gemeinsam gearbeitet. Beide haben sich als Teilnehmerinnen des Forum Text kennengelernt – eine zweijährige künstlerische Begleitung mit Mentoring durch uniT in Graz. Auch Ivna Zic, geboren 1986 in Zagreb, arbeitet als Autorin und hat als solche bereits vor dem Inszenierungsprozess viel Rückmeldung gegeben. Sie beschäftigt, dass Dushes Text einerseits Gegenwart auf der Bühne ist und andererseits Vergangenheit/Erinnerung im Text. Außerdem einerseits musikalische Partitur und andererseits Familiengeschichte.
Im Wechsel mit den formal eher strengen Szenen inszeniert Ivna Zic also auch Familienleben und Alltag. Die Schwestern sind Schwestern, die – jede mit eigenem Charakter – miteinander über die Erinnerung streiten und ihre Mutter nerven. Die Verteilung des Textes auf einzelne Rollen mit den Essener Schauspielerinnen ist also gelungen.
Warum sich die Schwestern dabei aber immer wieder über weite Strecken umziehen und so viel feixen, bleibt ein inszenatorisches Rätsel: Natürlich fühlen sie sich nie so richtig wohl in ihrer Haut und dafür könnte der Kleiderwechsel ein Zeichen sein. Er ist im Text aber nur schwach angelegt (Altkleiderspende nach Ankunft im Westen) und bringt eine solche Unruhe ins Spiel, dass die Musikalität des Textes in diesen Passagen verliert und Motive untergehen. Das ist schade.
Kunstvoll verwobene Textmotive
Was an diesem Abend am stärksten beeindruckt, ist auf textlicher Ebene das ungemein kunstvoll Verwobene von Motiven, die sich in Struktur und Inhalt vielfältig widerspiegeln. Auf inszenatorischer Ebene sind es die ruhigen Bilder voll zurückhaltender Strenge und großer Leichtigkeit, ein Verdienst auch von Martina Mahlknecht, verantwortlich für Bühne und Video und damit für flirrende Schwarz-Weiß-Projektionen, in denen endlos Papierblätter fallen oder Packlisten ineinander blenden.
Autorin Henriette Dushe lässt am Ende die Mutter ihren Töchtern versprechen, dass alles gut wird. Nachdem wir den gesamten Text über gelernt haben, dass die Versprechen sich nicht erfüllen, wissen wir, dass auch dieses Versprechen in der Luft hängt.
Regisseurin Ivna Zic dagegen gibt den Töchtern das letzte Wort. Sie haben Angst.

Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke
Bühnentext für fünf Frauen von Henriette Dushe
Regie: Ivna Zic
Schauspiel Essen

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