Von der befreienden Kraft des Sprechens

Rezensiert von Maike Albath · 14.06.2006
Der französische Psychoanalytiker und Essayist Philippe Grimbert hat ein Buch über die Macht des Schweigens geschrieben. Sein erzählerisch gestaltetes autobiographisches Zeugnis deckt nach und nach die Geschichte seiner Eltern auf: Aus Angst vor ihren Erinnerungen hatten sie ihre Vergangenheit mit einem Bann versehen und über all das, was vor der Geburt ihres Sohnes geschah, kein Wort mehr verloren.
Doch die Geheimnisse entwickeln eine untergründe Dynamik, und ihr einziges Kind spürt die verdrängten Erlebnisse. Ein Geheimnis nennt Grimbert seine bewegende Recherche deshalb auch.

Den Auftakt bildet eine Skizze seiner frühen Kindheit. Weil er sich oft allein fühlt, erfindet der kleine Philippe einen Bruder, mit dem er ständig im Gespräch ist, das Zimmer teilt, wetteifert und streitet. Dieser Bruder besitzt all das, wonach Philippe sich sehnt: Genau wie die atemberaubend schönen und sportlichen Eltern Tania und Maxime ist er körperlich vollkommen und begabt für Turnen und Ringen, er ist mutig und lässt sich nichts gefallen. Philippe hingegen hat eine schwache Konstitution, ist zart und anfällig, so dass ihm die Freundin und Nachbarin seiner Eltern, die resolute Masseurin Louise, wöchentlich Kräftigungsspritzen verabreichen muss.

Schon auf den ersten Seiten ahnt der Leser, dass das Schicksal der Grimberts etwas mit der Judenverfolgung zu tun haben muss. "So setzte sich das Vernichtungswerk im verborgenen fort, das die Schlächter einige Jahre vor meiner Geburt betrieben hatten", erklärt uns der 1946 geborene Verfasser, "es begrub alles unter sich, was geheimgehalten und verschwiegen wurde, es verstümmelte die Familiennamen, erzeugte Lügen, die Scham blieb. Obwohl die Verfolger besiegt waren, triumphierten sie noch immer". Diesen Triumph zunichte zu machen, ist das Anliegen Grimberts. Zunächst werden wir Zeugen seiner kindlichen Phantasien. Über Jahre leistet ihm der imaginäre ältere Bruder Gesellschaft. Seine Eltern betreiben ein Geschäft für Sportbekleidung, und Philippe wächst zwar ohne gleichaltrige Gesellschaft, aber doch inmitten einer fürsorglichen Familie auf.

Er weiß, dass Maxime und Tania während der deutschen Besatzung jenseits der Demarkationslinie auf dem Land waren und dort in einem idyllischen Städtchen lebten, wo der Krieg kaum zu spüren war. Es muss eine glückliche Zeit gewesen sein, durchdrungen von haltloser Verliebtheit, die er seinen Eltern immer noch anmerkt. Um den unausgesprochenen Erwartungen von Tania und Maxime genügen zu können, ist er ein hervorragender Schüler. Mit fünfzehn Jahren wird in seiner Schule ein Dokumentarfilm über die Gräueltaten der Nationalsozialisten gezeigt.

Als ein Klassenkamerad eine gehässige Bemerkung über Juden macht, zeigt Philippe zum ersten Mal in seinem Leben körperliche Stärke und streckt den Provokateur zu Boden. Ohne jemals eingeweiht worden zu sein, wird er sich plötzlich seiner jüdischen Herkunft bewusst, und die Vehemenz seiner Reaktion lässt ihn vermuten, dass es etwas Unausgesprochenes in seiner Familie gibt. Er besucht die alte Freundin der Familie, die ihre Eltern noch aus der Zeit vor dem Krieg kennen. Aus der alten Frau bricht das hervor, was tatsächlich passiert war. Viele Nachmittage lang spricht sie von der Vergangenheit. Fremde Namen kommen zum Vorschein. Robert, Hannah und Simon heißen seine Verwandten, deren Existenz Philippe immer gespürt hat.

Seine Eltern waren ursprünglich verschwägert gewesen, verheiratet mit dem Geschwisterpaar Robert und Hannah, und sein Vater hatte gemeinsam mit Hannah einen Sohn namens Simon. Simon ist der Halbbruder unseres Erzählers. Sein Vater Maxime fühlte sich von Anfang an von seiner Schwägerin Tania angezogen, deren Mann Robert an der Front kämpfte. Die jüdische Familie hatte die Gefahr in Paris lange unterschätzt, und als man sich endlich falsche Pässe und Quartiere in der freien Zone besorgte, war es schon fast zu spät.

Die Männer fuhren voran, die Frauen sollten mit Simon nachkommen. Nur Tania war über Lyon bereits in das Städtchen an der Creuse vorgedrungen. Die tragischen Verwicklungen nahmen ihren Lauf: obwohl sich die Gruppe in der Obhut eines Schleusers befand und mit Papieren ausgestattet war, zieht Hannah bei einer Kontrolle den alten Pass hervor und lässt sich gemeinsam mit Simon von deutschen Offizieren verhaftet.

Sie ahnt die Gefühle ihres Mannes und kann die Vorstellung, von ihm betrogen zu werden, nicht aushalten. Man verfrachtet Mutter und Sohn in einen jener verplombten Züge und bringt sie in ein deutsches Konzentrationslager, wo sie kurz nach ihrer Ankunft vergast werden. Louise und eine weitere Schwägerin hatten die Verhaftung hilflos mit ansehen müssen. Sie bringen es nicht übers Herz, Maxime die Wahrheit zu sagen und sprechen von Unachtsamkeit. Hannah hätte nicht bemerkt, dass sie ihren alten Ausweis noch in ihrer Handtasche mit sich herum trug. Erst Philippe vertraut Louise die ganze Wahrheit an.

Philippe Grimbert schlägt einen leisen Ton an und enthüllt die Familiengeheimnisse auf behutsame Weise. Er verzichtet auf eine spektakuläre Inszenierung, von Bitterkeit oder Vorwürfen ist nichts zu spüren. Denn für den Jugendlichen ist die Wahrheit eine Erlösung: er kann sich den Gespenstern der Vergangenheit stellen, reift durch den tiefen Schmerz heran und übernimmt anstelle seiner Eltern den Prozess des Trauerns. Er wird erwachsen.

Erst viele Jahre später, als sein Vater wegen des Todes eines kleinen Hundes untröstlich ist, klärt er ihn über sein Eingeweihtsein auf und lindert damit die quälenden Schuldgefühle Maximes. Grimberts bedrängendes Zeugnis gehört in eine Reihe neuerer französischer Romane, wie Patrick Modianos Dora Bruder und Cécile Wajsbrots Der Verrat, die das Schicksal der Juden unter der deutschen Besatzung zum Gegenstand haben. Ein Geheimnis ist ein kluges, mitreißendes Buch über das schwere Vermächtnis des Zweiten Weltkrieges und die befreiende Kraft des Sprechens. Die zerstörerische Wirkung tiefer Verletzungen lässt sich nur auf eine Weise brechen: indem man davon erzählt.


Philippe Grimbert: Ein Geheimnis
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 155 Seiten.