Von Arno Orzessek

11.06.2013
Der Literaturwissenschaftler Friedrich Kittler wäre, wenn er noch lebte, heute siebzig Jahre alt geworden. Drum bringt die "Welt" ein Interview mit ihm aus dem Herbst 2011, während die "FAZ" einen Verächter seines Lebenswerks zu Wort kommen lässt.
"Glänzend, wild, falsch, richtig, auftrumpfend, hingegeben, mitunter anzüglich, zugleich den ‚großen Denkern‘ wie der Militärgeschichte verpflichtet, zugleich dogmatisch wie jeden Zugang stürmend, der sich dem Autodidakten öffnet" –

so charakterisiert Jürgen Kaube in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG den Literaturwissenschaftler Friedrich Kittler, der an diesem Mittwoch siebzig Jahre alt geworden wäre.

Was man indessen schon immer über das Liebesleben des verachteten und vergötterten, berühmten und doch nur Insidern vertrauten, gleichermaßen gelehrten und Guru-haften Mannes wissen oder vielleicht lieber nicht wissen wollte, das erfährt man in der Tageszeitung DIE WELT.

Und zwar von ihm persönlich.

Die WELT druckt Auszüge eines Gesprächs, das Friedrich Kittler im Herbst 2011 mit Till Nikolaus von Heisler geführt hat.

Die ganze Unterredung ist Teil des Buches "Flaschenpost an die Zukunft", das nun im Kulturverlag Kadmos erscheint.

"Die erste große Liebe… ich weiß nicht… es gibt immer, glaub' ich, in jedem Leben – und das aus bitterer Erfahrung gesprochen – es gibt immer nur eine Frau, mit der man sich wechselseitig verspricht, das Leben lang zusammenzubleiben. Wenn das zerbrochen ist – und das lag nicht an mir, sondern an dieser blöden Habilitation und Amerika und tausend anderen bösen Sachen – dann ist es zerbrochen: Das war der größte Schmerz. […] Als ich [mein Buch] ‚Aufschreibesysteme‘ anfing zu schreiben, war ich noch zu zweit, als ich habilitiert wurde und aus Amerika zurückkam, war ich restlos allein."

Davon abgesehen, dass sich hier Kittlers niemals ganz konsistente Sprechweise gut nachlesen und damit nachhören lässt, klingt seine Erinnerung natürlich aufs Romantischste traurig.

Doch alsbald, so bekennt Womenizer Kittler,

"kam eine der zahllosen anderen Lieben. Und jetzt sind zwei zurückgekehrt aus der Studentenzeit. Ich hab‘ jetzt mit zwei Frauen geschlafen, mit denen ich beiden wahnsinnig gern geschlafen hätte damals in der Studentenzeit."

Andererseits weiß es Kittler zu schätzen, dass damals – anders als heute, wie ihm eine der besagten Liebhaberinnen erzählte – Jungen und Mädchen nicht

""schon mit dreizehn, vierzehn Jahren entjungfert werden"''.

""Wir haben diese zehn Jahre lang, wo wir auf das erste Glück mit einer Frau warten mussten, gearbeitet wie die Bestien und eigentlich alles grundgelegt, was wir dann im Lebenswerk ausformuliert haben."

Der eingangs erwähnte FAZ-Autor Kaube trägt übrigens einige Urteile zum Lebenswerk zusammen, die Kittler-Verächter im Schlaf zitieren könnten – darunter diesen:

"Der Münchener Germanist Friedrich Vollhardt […] hat sich […] Kittlers ‚Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft‘ unter Soliditätsaspekten angenommen. Das Ergebnis war verheerend. […] ‚Entertainment‘ statt Wissenschaft, lautete Vollhards Befund."

Soweit unsere Sondernummer "Kittler posthum zum 70sten". Und besten Dank fürs Durchhalten all jenen, die Kittler bis heute für eine falsche Schreibweise von Kettler, Kitzler oder Mittler hielten. –

"Dein Vater war ein sehr treuer Mann, leider nur zu vielen."

Das erklärte Helene Weigel einmal ihrer Tochter Barbara.

Hannelore Schlaffer zitiert Weigels Spruch in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG im Rahmen ihrer Besprechung des Buches "‘Ich lerne: gläser + tassen spülen‘ Bertolt Brecht, Helene Weigel, Briefe 1923-1956", das im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

Brecht signierte seine Briefe gelegentlich mit "‘i.k.d.‘", für ‚ich küsse dich‘ – und ging laut SZ-Autorin Schlaffer nicht von ungefähr so sparsam mit seiner Liebeslyrik um.

"Zu den vielen Programmpunkten, denen dieses berühmte Paar sein Leben unterworfen hatte, gehörte, dass Zusammengehörigkeit und Zuneigung nur kurz und bündig geäußert werden durften. Das Einverständnis der Eheleute bestand in gemeinsamer Sachlichkeit, nicht in einem Gefühlstheater."

Dass Brecht und Weigel ihren Anteil am Glück trotzdem erbeutet haben, ist nicht auszuschließen – jedenfalls nicht, wenn man Friedrich Kittler folgt:

"Die glücklichsten Momente unseres Lebens sind alle Orgasmen, und deshalb kann man so schwer darüber reden."