Von Arno Orzessek

23.03.2013
Ganz besonders ausführlich stritt das Feuilleton in dieser Woche über Erinnerung und den ZDF-Dreiteiler und Stalingrad-Film "Unsere Mütter, unsere Väter". Außerdem im Wochenrückblick: schon wieder ein Gedicht in der "FAZ", Angst vor Angela Merkels Händedruck in der "SZ", der Zusammenhang von Bescheidenheit, Arroganz und dem Papst in der "Welt", Trauer um die "Liebesreligion" in der "NZZ" und ein Geburtstagsgruß an Philip Roth.
Zunächst ein bisschen Buchstabenmusik…

Und zwar von Clemens Brentano, dessen Gedicht "Lieb und Leid im leichten Leben" die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG in ihrer Samstags-Serie vorgestellt hat.

Darin heißt es End- und Binnenreim-selig:
"In dem Spiegel all ihr Bilder
Blicket milder, blicket wilder,
Kann doch Jugend nichts versäumen
Fort zu träumen, fort zu schäumen.

Frühling soll mit süßen Blicken
Mich entzücken und berücken…"

Wie viel Tiefsinn unter der kalkulierten Oberflächlichkeit steckt, das erklärte in der FAZ Dirk von Petersdorff.

Wo wir gerade beim Frühling sind:

Evelyn Roll, Lesern der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG aus dem Ressort Politik bekannt, hat die jüngste Grippe-Welle und den sibirischen März da draußen zum Anlass genommen, probehalber aufs keimige Händeschütteln zu verzichten - das bei ihr Dexiosis heißt.

"Dexiosis klingt viel besser und vor allem gefährlicher: Einfach mutig die rechte Hand zum Gruß heben, sagen: 'Dexiosis vermeiden!' Und lächeln. Geht doch","

schrieb SZ-Autorin Roll – fügte aber hinzu:

""Bis dann der Chefredakteur vor einem steht, oder eine Bundeskanzlerin, die freundlich die Hand zum Gruß entgegenstreckt…."

Tja! Da schreibt Evelyn Roll einmal im SZ-Feuilleton… und lässt alle wissen, dass ihr Handschlag von einer Angela Merkel gesucht wird.

Wie Bescheidenheit aussieht, führt der neue Papst vor. Das meinen zumindest viele, keineswegs aber Alexander von Schönburg.

"Auch Bescheidenheit kann Arroganz sein", moserte der Autor, der sonst bei der BILD-Zeitung arbeitet, in der Tageszeitung DIE WELT….

Schönburg hasst es, wenn gekrönte Häupter und Päpste die Augenhöhe mit Jedermann suchen.

"Es sind nicht sie – die Inhaber der Ämter -, denen unsere Ehrerbietung gilt. Als Personen sind sie Menschen wie du und ich. Es sind ihre Ämter. Vor denen haben wir aber geradezu das Recht, uns zu verneigen. Ist neben allzu ostentativer Bescheidenheit die Unart, sich selbst mit dem Amt zu verwechseln, die vielleicht unverschämteste Form der Hochmut?"

Es hätte hier – in aller Bescheidenheit – ‚unverschämteste Form des Hochmuts‘ heißen müssen; der Hochmut ist maskulin.

Aber geschenkt. Die Hierarchie-Sucht von Schönburgs kam so oder so verquast rüber. –

Ohne Anspielung aufs neue Pontifikat besprach Ludger Lütkehaus in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG den letzten Band der "Kriminalgeschichte des Christentums", einer Reihe, die der 90jährige Karlheinz Deschner vor vier Jahrzehnten begonnen hatte.

"Wer der von Deschner nachgezeichneten Blutspur folgt, wird sich dem schlimmen Gesamteindruck nicht entziehen können. Was hat die Geschichte des Christentums oder der Christentümer aus den Ansätzen einer Liebesreligion gemacht!"

seufzte NZZ-Rezensent Lütkehaus. –

Am lautesten gestritten wurde über den ZDF-Dreiteiler und Stalingrad-Film "Unsere Mütter, unsere Väter".

"Ach, so fickten die Nazis? […] Nähmaschinenartig, der Mann, ein Sturmbannführer, die aggressive Nadel. Die Frau […] hingegen duldend, der Stoff, in dem die Nadel sich dauerzuckend versenkt. […] Leider ist der Umstand, dass ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ festes Einbildungswissen […] reproduziert, nicht einmal der gewichtigste. Sondern, dass der Film nicht wirklich berührt",

höhnte Jan Feddersen in der TAGESZEITUNG.

Harald Jähner von der FRANKFURTER RUNDSCHAU erlebte "Fernsehen bis zum Hörsturz" und resümierte:

"Ein gigantisches Potpourri von Motiven, das wir aus allen möglichen Filmen zum Nationalsozialismus kennen, wird zusammengefügt zum Porträt einer Generation, das so leicht verständlich, so spannend konsumierbar ist wie ein Film über jede andere Generation davor oder danach, nur eben viel knalliger."

Ach ja, Liebhaber von "Unsere Mütter, unsere Väter" kamen auch zu Wort – fast alle in der FAZ, die schon in der Vorwoche zum Werbeprospekt mutiert war….

Weshalb Tilman Krause maulte:

"Stalingrad? Ohne mich!"

Doch indem der WELT-Autor beobachtete, … "die Volksgemeinschaft versammelt sich vor dem Fernseher","… setzte er sich selbst dazu:

""Melde gehorsamst: ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘ durchgeführt, äh: angesehen. Darf ich jetzt gehen? Vielleicht sogar ohne Hackenklappen? Schließlich bin ich, seit vor einer Woche der Journalist Frank Schirrmacher in seiner Ansprache an das deutsche Volk gefordert hat, man möge sich mit allen verfügbaren Familienmitgliedern vor die Glotze setzen und das Stalingrad-Epos von Nico Hofmann angucken, natürlich nur noch Deutscher."

Lustig zu lesen auch Alexander Gorkow. Er knöpfte sich in der SZ den "in der Rolle des ARD-Vorabend-Buffos und Konsenstrottels vor Selbstbewusstsein berstenden [NDR-Moderator] Hinnerk Baumgarten" vor.

Baumgarten hatte die Schauspielerin Katja Riemann, von Gorkow durchaus als "Ziege" vorgestellt, aufs Peinlichste mit Nichtigkeiten behelligt.

"Was wir nun sehen bei der traurigen Katja Riemann in dieser Sendung, ist ja bezeichnenderweise eben nicht Arroganz. Sondern es ist Panik: Wenn ich es nicht schaffe, auf diese in erniedrigend hoher Schlagzahl abgefeuerten Unsinnsfragen auch nur einmal mit etwas Charme zu antworten, bin ich erledigt."

Nicht erledigt, aber doch am Ende sind auch wir.

Deshalb unterschlagen wir die Artikel zum 80. Geburtstag von Philip Roth, gratulieren ihm aber mit den letzten Versen des erwähnten Brentano-Gedichts "Lieb und Leid im leichten Leben" aus der FAZ:

"Herbst du sollst mich Haushalt lehren
Zu entbehren, zu begehren,
Und du Winter lehr mich sterben,
Mich verderben, Frühling erben,

Wasser fallen um zu springen,
Um zu klingen, um zu singen,
Schweig ich stille, wie und wo?
Trüb und froh, nur so, so!"