Von Armenfriedhof bis zum Anglerglück

Inselhopping an New Yorks Küste

Blick auf den East River mit Manhattan im Hintergrund, aufgenommen vom Ufer in Williamsburg, Brooklyn, New York am 22.06.2014.
USA - New York City - East River und Manhattan © picture alliance / dpa / Alexandra Schuler
Von Kai Clement · 31.08.2016
Es sind fünf eher unbekannte Inseln vor New York: Governors Island, Roosevelt Island, Rikers Island, City Island und Hart Island. Und jeder dieser Flecken hat seine ganz eigene Geschichte.
Ganz New York ist eine Insellandschaft. Ob Manhattan, Staten Island, Long Island - alles Inseln. Hinzu kommen die berühmten wie Liberty Island mit der Freiheitsstatue und die Einwandererinsel Ellis Island. Und es gibt noch mehr.
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Governors Island
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Tim O’Brien ist Chef der erst im Mai neu eröffneten Brooklyn Marina und bittet um Ausfahrt. An der Ausfahrt muss sein kleines Motorboot noch einen Ölfrachter passieren zu lassen. Kurz vor dem New Yorker Inselhopping können wir hier noch einmal die Aussicht zu genießen: Wir schauen über den südlichsten Teil des East River, gegenüber liegt die Battery mit ihrem Fährhafen, von wo es auch zu Governors Island geht. Einige Boote liegen vor uns. Wie haben den Blick auf die Wall Street, den South Street Seaport und zur Rechten blicken wir auf die Brooklyn Bridge. Mehr Aussicht geht nicht. Und eine kürzere Anfahrt auch nicht - nur Minuten trennen den Yachthafen und Governors Island. Die Insel bietet seinen Besuchern eine New Yorker Rarität: Stille.
Leslie Koch ist die "Queen of the Park", die Königin des großen Parks auf Governors Island und weiß die Insel zu schätzen: "Ja, es kann sehr still sein hier - ab und an vielleicht ein Helikopter. Vor allem aber hört man Vögel. Und es gibt großartige Gerüche: das Meer und das Grün und beides gleichzeitig." Es sind vor allem die New Yorker, die hierher kommen: statistisch ist jeder vierte Besucher aus der Stadt, der Rest, also ein Viertel sind Touristen.
Koch leitet seit zehn Jahren die Umgestaltung der autofreien Insel zum Naherholungsgebiet. Mitte Juli eröffnete sie die "Hills": vier Hügel, von denen Manhattan ebenso wie die Freiheitsstatue zum Greifen nah sind. Mit rund 20 Metern ist der Aussichtshügel der höchste. Da ist der Himmel und da die See. Der Hafen. All das macht Governors Island so besonders für New Yorker. Sie können ihre Stadt erleben - und gerade hier von den Hügeln aus mit einer ganz neuen Perspektive.
Ob mit der "Jazz Age"-Party, die die 20-er Jahre wieder auferstehen lässt oder mit Aufmärschen in historischen Uniformen - die Insel feiert ihre Geschichte. Eines aber hat sich ganz gewaltig verändert: die Insel selbst. Deren Größe hat sich verdoppelt, erklärt Leslie Koch. Damals entstand der Teil, auf dem jetzt ihr Park wächst.
Governors Island ist zwar eine historische Insel, die Hälfte allerdings besteht aus Aushub vom U-Bahn-Bau der Lexington-Strecke in New Yorks East Side von 1905. Auf diesem Geröll und dieser Erde aus dem Herzen Manhattans zeigt Gabrielle Heath Großstadtkindern, wie Lebensmittel wachsen - auf der Schulfarm der Insel. Es gibt Ziegen, Hühner - und vor allem viele, viele Hochbeete mit Erdkirschen, Auberginen, Bohnen, Kürbis, Mais … Anschauungsmaterial für etwa 100 Kinder Tag für Tag. Denn die meisten Kinder haben keine Ahnung, wie ihr Essen wächst. Sie wissen nicht 'mal, wie Salat im Beet aussieht. Da gibt es oft Schocks und Überraschungen.
"Ich mag diesen Widerspruch: laufe durch den Finanzdistrikt, aber von oben bis unten voll Erde, alle anderen tragen Anzüge."
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Roosevelt Island
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Von Governors Island aus geht es den East River hinauf. Der East River ist eine Tidenenge und verbindet den Long Island Sound mit dem Meer. So strömt der vermeintliche Fluss wegen der Gezeiten mal nach Norden, mal nach Süden. Zwei Autotunnel und drei Brücken passiert das Boot bis zur nächsten Insel, der Roosevelt Island.
Judy Berdy leitet hier die Historische Gesellschaft und wohnt seit 1977 auf der Insel. Die Abgeschiedenheit in Sichtweite von Manhattan will sie nicht missen. Lange Jahre diente Roosevelt Island als Gefängnisinsel, als Isolationsort für Pockenkranke und für die Lunatics, die Irren, wie es so unschön hieß. In den 70er Jahren aber begann dann der Bauboom für Wohnungen - und das war das Ende von Welfare Island, wie sie damals noch genannt wurde, also Wohlfahrtsinsel. Doch dieser Name verkauft sich nicht gut auf dem Wohnungsmarkt. Damals wurde sie nach dem Präsidenten Franklin D Roosevelt benannt, der hier verewigt wurde mit einem Denkmal, darauf die Worten seiner berühmten Rede von 1941 zu den vier Freiheiten: der Redefreiheit, der Religionsfreiheit, der Freiheit keine Not leiden und der Freiheit keine Furcht haben zu müssen.
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Rikers Island
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Vor dem sogenannten Teufelstor, dem Hells Gate, an der Nordspitze von Roosevelt Island warnt seit 1872 ein historischer Leuchtturm. Hier kommen der Harlem River und East River sowie der Long Island Sound zusammen. Fünf Kilometer sind es von hier bis zu New Yorks berüchtigter Gefängnisinsel: Rikers Island.
Auf diese Insel kommt niemand freiwillig. Urlaub, schöne Aussicht, frische Brise vom Fluss namens East River: All das sucht hier keiner. Stattdessen gilt: wer Rikers üb-erlebt, der kann alles überleben. Rikers gehört in die Reihe von Alcatraz und der Teufelsinsel: Ein Gefängnis also, dessen stärkste Mauer das es umgebende Wasser ist. Auf Rikers Island leben mehr als 10.000 Menschen - eine Kleinstadt. Der Großteil sind Untersuchungshäftlinge, viele der Insassen psychisch krank.
Rikers Island ist abgeschlossen, nicht frei zugänglich. Aber eine Kampagne wirbt "Close Rikers Island!" Wo-anders neu bauen und mit der neuen Hülle auch eine neue Perspektive schaffen. Sinnvoller sei das, als etwa in Brooklyn Millionen Dollar für eine Straßenbahn auszugeben. Im Immobilien-nimmersatten New York hat das gleich die Idee vieler Neu-bauten mit Flussblick aufgeworfen. Die dann natürlich freiwillig und gegen gutes Geld bewohnt würden.
Gefängnisse, Billigmärkte, Lagerhäuser, New York hat seine Wasserwege und Uferstrecken erst spät entdeckt.
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City Island
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Bis vor kurzem noch hat man am Wasser die billigsten Liegenschaften gebaut. Denn niemand wollte hierhin. Unglaublich. Aber selbst sozialer Wohnungsbau direkt hier am Wasser. Eine Ausnahme davon - mit einer langen Geschichte des Bootsbaus und der Segelmacherei ist City Island.
Segelmacher und Schiffsbauer aber sind ehr die Vergangenheit, als die Gegenwart der kleinen Insel. Sie liegt hoch im Norden New Yorks, zwischen der Bronx und Long Island. Die Insel ist heute teils Schlafstadt für Pendler, teils Ausflugsziel für New Yorker, vor allem aus der Bronx. Es gibt über 30 Restaurants bei nur 4300 Einwohnern. Eines davon: Tony’s Pier. Hier gibt es Fisch, frittiert und zur Selbstbedienung. Cheryl Weiner leitet den vor 35 Jahren eröffneten Imbiss zusammen mit ihrem Bruder - schon als Kinder haben sie dort gearbeitet. Für sie Tradition und unverzichtbarer Teil ihres Lebens: "Ich habe es geliebt. Wirklich geliebt. Mit all den Cousins, wenn wir zum Beispiel draußen gegessen haben - das war Familie."
City Island hat die langgestreckte Form eines Fisches: eine lange Hauptstraße, davon abzweigend viele kurze Querstraßen, wie Gräten, die alle schnell am Meer enden. "Ende" steht dann auch warnend auf leuchtend-gelben Schildern, darüber rote Blinklichter. "Da sind zwei Rotlichter, dass man ganz sicher nicht mit dem Auto ins Wasser hinunter fährt", sagt Alex Schibli. Der Schweizer hat vor fünf Jahren für fast 180.000 Dollar zusammen mit einem anderen Schweizer ein paar Brocken Fels gekauft. "The crazy Suiss bought an Island", hieß es dann. Die winzige Insel liegt in Sichtweite vor Schiblis Meer-Grundstück auf City Island, er kann mit seinem Kajak rüberpaddeln und hat damit vermutlich die einzige Privatinsel New Yorks.
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Hart Island
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Erst sucht der Tod Elaine Joseph heim: Ihre frühgeborene Tochter stirbt in einer Klinik in Manhattan nach nur wenigen Tagen trotz einer Notoperation am Herzen. Dann verliert sie ihr Kind gleich noch einmal: für Jahrzehnte hat sie keinen Ort zum Trauern, weiß nicht, wo ihr Baby beigesetzt ist.
Tomikas Geburtstag: das war der 16. Januar 1978. Die Klinik schickt sie nach Hause, das Frühchen bleibt . Und verstirbt. "Ich war eine junge, 23-jährige Frau. Was tut man, wenn das Kind stirbt - ich hatte keine Ahnung, nie habe ich darüber nachgedacht", erzählt sie. Nachfrage auf Nachfrage bei der Klinik bleibt dann ergebnislos, bis es schließlich heißt: Die Mutter habe doch das Formular ausgefüllt, dass die Stadt sich "kümmern" solle. Und die Stadt hatte sich gekümmert. Aber wie? 31 Jahre lang suchte Elaine Joseph dann nach Tomikas Begräbnisort. 31 Jahre lang erhielt sie nie eine Antwort. 31 Jahre lang hatte sie keinen Ort zum Trauern. "Schließlich sah ich im Fernsehen eine Geschichte über Hart Island. Ich guckte zu, wie sie winzige kleine Särge abluden. Da fand ich heraus: Das ist der Begräbnisort der Stadt." Potter’s Field auf Hart Island.
Der Armenfriedhof. Hier begräbt die Stadt diejenigen, um die sich kein Angehöriger kümmert. Obdachlose können das sein. Gefängnisinsassen. Totgeburten. Körperspenden. In diesen Apparat geriet Elaines Tochter. Hart Island ist ein Ort, der Kafka gefallen dürfte. Er untersteht der Gefängnisverwaltung der Metropole. Und so sind es Gefangene, die hier nicht nur verstorbene Mitinsassen in Massengräbern bestatten, sondern eben auch Elaines Tocher Tomika.
Familienangehörige müssen sich ein Vierteljahr vor dem Besuch bei der Gefängnisverwaltung anmelden. Man fährt mit der Fähre hin. Darf höchstens vier Personen mitbringen. Dann eskortiert einen ein Gefängnisaufseher durch diese Ödnis hin zu einem Plastikrohr. Das markiert die Gräber von 150 Erwachsenen oder 1000 Kindern. Eine Plastikröhre.
Melindas Internetseite gibt nun den Toten Namen und Biografien zurück. Viele schriftliche Unterlagen von Hart Island gingen verloren, erst 2009 dann begann die Digitalisierung der Unterlagen.
"Die Jahre der Suche - vergeudet, eine Folter", sagt Elaine Joseph. Auch der erste Besuch brachte ihr keine Befreiung, denn Angehörige durften jahrelang nur einen Pavillon auf der Insel besuchen, nicht aber die eigentlichen Massengräber. Elaine Joseph war schließlich die erste, die dies zusammen mit anderen Müttern in einem außergerichtlichen Vergleich durchsetzt.
Ein Foto zeigt sie 2014 zusammen mit ihrem Sohn im März auf der Insel inmitten wintertoter Vegetation, mit verfallenden Gebäuden im Hintergrund. Endlich steht sie am Grab - endlich eine Verbindung. Trotz der Kälte: Sie will nicht gehen. Ihre Tochter sei doch nicht arm, bedürftig oder ungewollt gewesen, klagt Elaine fast 40 Jahre später immer noch ratlos. Sie sei schlicht im System verloren gegangen. Für immer.
(sru)
Manuskript zur Sendung als PDF-Dokument
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