Vom Übel "des Systems"

29.05.2008
Eine vernichtende Kritik an der "Bildungslage der Nation" liefert Christian Füller mit seinem Sachbuch "Schlaue Kinder, schlechte Schulen". Der Rundumschlag wirkt jedoch wenig fundiert: Füller will das Bildungssystem treffen und verliert die Wirklichkeit der Schulen aus dem Blick.
In den achtziger Jahren hatte linke Gesellschaftskritik noch den Mut zum Ganzen. Um zu erklären, wie Atomkraftwerke, Arbeitslosigkeit und Angstneurosen ursächlich zusammenhingen, galt das kapitalistische System als feste Größe.

Nach 1989 hat dann zwar die Idee einer für alle sozialen Tatsachen verantwortlichen Grundstruktur an Begeisterungspotenzial eingebüßt, wirklich vom Tisch ist sie aber nicht. In der Bildungspolitik hält sich der Glaube an das "im System"steckende Unheil künstlich am Leben wie Harry Potters diabolischer Gegenspieler Lord Voldemort. Das Einhornblut, von dem er sich nährt, fließt aus den Wunden, die PISA schlug.

Wie der faule Zauber funktioniert, macht der Bildungsjournalist Christian Füller in seinem neuen Buch vor. Der sich unbeirrbar gebende Systemgegner hat sich laut Verlag "die Bildungslage der Nation" vorgenommen. Weil es sich dabei um ein System handelt - folgern wir hier mal stellvertretend, weil der Autor uns an keiner Stelle erklärt, was er eigentlich unter einem System versteht - muss es per definitionem an allem schuld sein, was in deutschen Schulen seit den ersten PISA-Befunden von 2001 schief läuft.

Füller schildert in grellen Farben einen gesellschaftlichen Verblend- oder besser: Verblödungszusammenhang, der vom Lobbyismus gelähmte Politiker, denkfaule Lehrer und frustrierte Eltern zu gesichtslosen Agenten eben jener fatalen Gesamtmechanik macht, die Schülerinnen und Schüler in die berufliche Perspektivlosigkeit treibt.

Das dreigliedrige Schulsystem ist für Füller nicht nur die Ursache für das schlechte Abschneiden bei internationalen Schulleistungsstudien, sondern auch für die misslingende Integration gewaltbereiter ausländischer Jugendlicher, den Niedergang der Facharbeiterausbildung, die mangelnde Exzellenz an den Universitäten und die geringere Lebenserwartung von Schulabbrechern. Um nur die wichtigsten Kollateralschäden zu nennen.

Eine genauere Analyse der Einzelheiten kann schon deshalb unterbleiben, weil sie ja ohnehin nur als Belege für den desaströsen Zustand des Großen und Ganzen dienen. Nervzehrend ist die als wissenschaftlich wohl informiert daherkommende Unbedarftheit, mit der durchgängig von einzelnen Beispielen auf allgemeine Regeln geschlossen wird.

Das hört sich dann ungefähr so an: Paul hat schlechte Noten und Wut auf seinen Lehrer, der vorne an der Tafel steht. Ein weiterer Beweis dafür, was die verhängnisvolle Praxis des Frontalunterrichts den Schülern antut. Statt es aber von vorne eingetrichtert zu bekommen, sollte Paul lernen zu lernen. Bleibt die Frage, wer ihm das beibringt, wenn der Lehrer sich ganz auf die Rolle eines "Moderators" zurückziehen soll. Und warum sollte Paul ausgerechnet lernen wollen zu lernen, wenn er doch eigentlich gar nichts lernen wollte?

Wer so argumentiert, braucht sich um die Details nicht zu kümmern: Da wird einerseits gefordert, Erzieherinnen an Kindergärten akademisch auszubilden, und im gleichen Zug bemängelt, dass der Betreuungsschlüssel an deutschen Hochschulen den hohen Studentenzahlen nicht angemessen sei. Dass das eine mit dem anderen irgendwie zusammenhängen könnte, kann einen echten Systemgegner nicht erschüttern.

Hier reicht schon ein Hauch von Empirie, um zu weitreichenden Schlüssen zu kommen. Das wird dort besonders deutlich, wo der Autor demonstrieren möchte, dass es hierzulande trotzdem gute Schulen geben kann. Als ein Beispiel dient die Montessori- Gesamtschule in Potsdam. Schulleiterin Ulrike Kegler wird mit dem gutgemeinten Rat zitiert "das Abstufen abzuschaffen". Schulen sollten dazu verpflichtet werden zu fördern, statt zu selegieren.

Dass aber gute Schulen wie die Montessori-Schule von Bewerbungen überflutet werden, sodass schon vor der ersten Schulstunde eine folgenreiche Vorauswahl stattfinden muss, bei der hoch motivierte Elternhäuser eine wichtige Rolle spielen, verschweigt Füller. Damit setzt er nicht nur seine eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Was ein deutsches Bildungssystem sein soll, hat er uns auch nicht erklärt.

Rezensiert von Ralf Müller-Schmid

Christian Füller, Schlaue Kinder, schlechte Schulen
Wie unfähige Politiker unser Bildungssystem ruinieren - und warum es trotzdem gute Schulen gibt

Droemer Verlag, München 2008
286 Seiten, 16,95 Euro