Vom Turnverein zum Fitness-Studio

14.08.2008
Die Autoren Wolfgang Kiener und Frater Johannes Weise analysieren in dem Buch die zunehmende Isolierung vieler Menschen. Sie zeigen zugleich Lösungsvorschläge zur Verbesserung dieses Zustands auf.
Durchtrainiert, aber sozial inkompetent: der Ökonom Wolfgang Kiener und der Dominikanermönch Johannes Weise analysieren das Unglück des exzessiv individualisierten Menschen der westlichen Industrienationen

Während früher körperliche Ertüchtigung, so denn überhaupt, im Turnverein stattfand und mit Geselligkeit, Biertrinken und gemeinsamem Feiern verknüpft war, geht der typische Individualist der Gegenwart allein ins Sportstudio und hört seine eigene Musik mittels Knopf im Ohr, während er Hanteln hebt und sich dabei womöglich auch noch – ganz Narziss – selbst im Spiegel anstarrt. Auch wenn er in einer Gruppe Aerobic oder Pilates betreibt, ist seine Aufmerksamkeit eher dem eigenen Körper und dessen Spiegelbild gewidmet als den ihn umgebenden Menschen.

Der Sozialtyp des individualistischen Eigenbrödlers, der zwischenmenschlichen Austausch als peinlich, störend oder auch nur anstrengend empfindet, dessen Leben eine einzige Aneinanderreihung von Zeitnot ist und der selbst seine sozialen Rendezvous noch zeiteffizient zu gestalten versucht, ist in unseren Breitengraden zweifelsohne derzeit verbreiteter denn je zuvor. Dass man so aber nicht glücklich wird, das ist die Grundüberzeugung der Autoren von "Die Individualismus-Falle", die sie mit vielen Beispielen und Statistiken zu untermauern versuchen.

Mit ihrer Frage nach Lebensfreude und deren häufigem Mangel in modernen Gesellschaften schließen sie an das scheinbare Paradox an, das Soziologie, Ökonomie und den noch jungen Spezialbereich der "Glücksforschung" in den letzten Jahren zunehmend umtreibt, nämlich die Tatsache, dass die Menschen auf dieser Welt trotz stetig steigendem materiellem Wohlstand und Sicherheit nicht unbedingt glücklicher werden.

Wolfgang Kiener und Johannes Weise sehen die Ursache für dieses Problem hauptsächlich im schwindenden sozialen Austausch und in der zunehmenden Isolierung vieler Menschen in einer durchrationalisierten Gesellschaft. Ihr Buch ist im ersten Teil der ausführlichen Beschreibung des "sozial-zwischenmenschlichen Mangelzustands" gewidmet, während der zweite Teil Lösungsvorschläge zur Verbesserung dieses Zustandes bietet.

Die Autoren behaupten zwar nicht, dass Individualismus die einzige Ursache menschlichen Unglücks wäre; vielmehr geben sie jederzeit zu, dass alle möglichen anderen Dinge dem Glück hinderlich sein können. Überhaupt haben sie einiges gelesen und verarbeitet an soziologischen, philosophischen, anthropologischen und ethnologischen Studien und bemühen sich überall um Differenziertheit und Verträglichkeit. Konservative Polemik ist ihre Sache nicht und auch nicht die vage Sehnsucht nach einer "guten alten Zeit" oder altmodischen Familienstrukturen.

Vielmehr beschreiben sie relativ nüchtern-sachlich den durchschnittlichen Ist-Zustand und geben vorsichtig-freundliche Ratschläge zur individuellen Verbesserung.
Das ist alles furchtbar einleuchtend und nicht besonders neu. Fernsehen macht nicht glücklich – aber wir verbringen alle zuviel Zeit damit.

Der Mensch hat ein Grundbedürfnis nach Sozialkontakt, das in der urbanen Single-Wohnung ebenso wenig befriedigt wird wie in der kontaktarmen Mutterfalle der suburbanen Kleinfamilie. Viele Menschen in Westeuropa und vor allem in Amerika haben überhaupt keine funktionierenden sozialen Netzwerke mehr. Einsamkeit und Depressionen sind ein grassierendes Übel.

Ebenso unaufgeregt und unsensationell wie die Analyse der Probleme sind dann die Empfehlungen der Autoren: Nicht zu einseitig leben. Kontakte aufbauen. In einem Verein mitwirken. Sich Lebenskultur aneignen. Kochen, Essen. Möglichst gemeinsam mit anderen Menschen. Den Sinn für die einfachen Dinge wieder entwickeln und sich an Kleinem freuen. Alles nichts, was man sich nicht problemlos jeden 1. Januar vornehmen könnte.

Das Buch ist das Resultat ist ein ungewöhnliches, aber durchaus sympathisches Zusammengehens: Kiener ist ein Investment-Analyst, Weise ein katholischer Dominikanermönch. Ihre Botschaft – nämlich, dass man durch Intensivierung zwischenmenschlichen Austausches die Lebensfreude steigern kann – steht denn auch irgendwo zwischen postmoderner Wellness-Philosophie und katholischer Soziallehre. Sie ist unmittelbar plausibel und so vernünftig argumentiert, dass sie kaum auf breites Gehör stoßen wird. Niemand wird dem Schlussplädoyer der Autoren gänzlich widersprechen wollen:

"Wir sind überzeugt, dass wir uns mit einer Wiederbelebung sozialen Lebens erneut Lebenskultur aneignen werden, und dass wir auf diese Weise weniger einseitig leben und unsere Persönlichkeit umfassender entwickeln werden. Wir sind überzeugt, dass dies zu einer Verringerung von Problemen der Vereinsamung, des Verhältnisses zwischen Frau und Mann sowie der menschlichen Zusammenarbeit im Allgemeinen führen wird. Wir sind überzeugt, dass wir so mehr Freude am Kontakt zu unseren Mitmenschen haben werden, mehr Freude an der Art und Weise, wie wir unsere Freizeit verbringen, mehr Freude an all dem, was wir uns erarbeiten, und mehr Freude - am Leben."

Aber es fehlt diesen Sätzen doch irgendwie die Verführungskraft und die Poesie der großen Ideale und Ideologien. Nur wenige werden wohl aufgrund dieses Ratgebers mit plötzlicher Erleuchtung ihr Leben grundlegend ändern.

Rezensiert von Catherine Newmark

Wolfgang Kiener / Frater Johannes Weise: Die Individualismus-Falle. Warum die Lebensfreude schwindet und wie wir das ändern können,
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008, 260 Seiten, 14,90 Euro