Vom Steinschmerz

06.11.2007
In kunstvoller Schlichtheit und stilisierter Naivität erzählt "Die Frau im Mond" vom Leben auf Sardinien und der Kraft der Liebe: Die Erzählung der italienischen Schriftstellerin Milena Agus avancierte überraschend zum Bestseller. Nun ist eine deutsche Übersetzung erschienen.
Die sardische Schriftstellerin Milena Agus ist ein Phänomen. Vor zwei Jahren aus dem Nichts aufgetaucht, steht die Lehrerin für Italienisch und Geschichte seit Monaten mit zwei schmalen Büchern auf den italienischen Bestsellerlisten, kam in die Endauswahl der zwei renommiertesten Literaturpreise "Premio Campiello" und "Premio Strega" und landete auch in Frankreich einen bahnbrechenden Erfolg. Nach ihrem Debüt "Solange der Haifisch schläft" ist jetzt ihr zweites Buch auf Deutsch erschienen und auch bei uns auf die Bestsellerliste gekommen. "Die Frau im Mond" heißt der Kurzroman, der ein Frauenschicksal auf Sardinien zum Gegenstand hat und von einer weiblichen Befreiung der besonderen Art erzählt.

Eine Ich-Erzählerin ergreift das Wort. Die Sprache ist einfach und unprätentiös, der Rhythmus ruhig und gleichmäßig, und untergründig ist eine tiefe Melancholie spürbar, die an die eintönige Traurigkeit der sardischen Volkslieder erinnert. Die Erzählerin gibt Auskunft über ihre Großmutter, eine rätselhafte Person aus einem kleinen Dorf im Inland, die noch mit knapp dreißig Jahren trotz ihrer Schönheit unverheiratet ist, was im Sardinien der frühen vierziger Jahre einer Katastrophe gleichkommt. Dabei hat sie eine Menge Verehrer, aber mit irgendetwas scheint sie die jungen Männer regelmäßig in die Flucht zu schlagen. Als der Mutter gewisse Gerüchte zu Ohren kommen über leidenschaftliche Gedichte voller unverhohlener Anspielungen, die ihre Tochter den potenziellen Verlobten zukommen ließe, schlägt sie die Tochter halbtot.

Kurze Zeit später nimmt ein freundlicher Witwer aus Cagliari bei der Familie Quartier, und als er um die Hand der verrückten Tochter anhält, erklären sich die Eltern entgegen dem Willen der Tochter einverstanden mit der Eheschließung. Sie sind erleichtert, denn was fängt man mit so einem Mädchen an? Nicht einmal die hysterischen Reaktionen seiner Frau sind dem frisch gebackenen Ehemann zu viel: Er verspricht ihr, weiterhin das Bordell zu besuchen und sie nicht zu behelligen. Die junge Ehefrau erklärt sich einverstanden und rückt Nacht für Nacht an den äußersten Rand der Matratze. Gemeinsam mit ihrem Mann zieht sie nach Cagliari um, und als einige Jahre vergangen sind, lässt sie sich die Dienste erklären, die ihr Gatte normalerweise im Bordell in Anspruch nimmt und schlägt einen Handel vor: Sie werde genau diese Dinge tun, und das gesparte Geld solle man statt dessen für einen Hauskauf beiseite legen.

Eines Tages wird die junge Frau wegen ihrer Nierensteinleiden, die eine Schwangerschaft verhindern, auf das Festland geschickt. Dort begegnet sie einem empfindsamen, hochmusikalischen Herrn, wegen seiner Kriegsteilnahme - die ihn ein Bein kostete - "Reduce", Heimkehrer, genannt, und verfällt ihm mit Haut und Haaren. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfährt die damals knapp Vierzigjährige, was Liebe bedeutet. Sie kehrt nach Sardinien zurück und bekommt neun Monate später einen Sohn, der später Konzertpianist werden wird. In knappen Kapiteln lässt die Ich-Erzählerin den zweiten Teil des Lebens ihrer Großmutter Revue passieren, an dem sie selbst teilhatte. Nur ihr hatte die Großmutter, die heimlich Geschichten in ein Schulheft schrieb, das Geheimnis vom "Reduce" anvertraut.

Es ist das Vermächtnis dieser Großmutter, das den Kernpunkt der Geschichte ausmacht: Die Entdeckung der eigenen Person durch die Liebe zu einem anderen Menschen, der ihre Verrücktheiten und Marotten als ebenso liebenswert empfand wie ihren Körper. Die Ich-Erzählerin führt durch das Schreiben das fort, was die Großmutter begann und setzt ihr zugleich ein Denkmal. Seine Wirkung bezieht der kleine Roman aus seiner kunstvollen Schlichtheit. Die stilisierte Naivität der Ich-Erzählerin bringt die sardische Szenerie mit ihren prägnanten Charakteren zum Leuchten. "Die Frau im Mond" - im Original unter dem sehr viel schöneren Titel "Mal di pietre", Steinschmerzen, erschienen - ist in dem kleinen Verlag Nottetempo heraus gekommen und wurde mitnichten als Bestseller programmiert.

Dass der Roman in Italien so begeistert aufgenommen wurde, mag verschiedene Gründe haben. Ähnlich wie bei den erfolgreichen Kriminalromanserien von Autoren wie Camilleri, Lucarelli bis hin zu Carofiglio und dem Sarden Fois steht auch hier eine bestimmte Region mit ihren Eigenarten im Vordergrund: Sardinien, die lange als rückständig verachtete Insel, von der viele Emigranten nach Norditalien kamen. Durch die fortschreitende Globalisierung und Vereinheitlichung verunsichert, entdeckt man in diesen Jahren in Italien die Bedeutung der regionalen Verankerung wieder. Außerdem ist Agus’ Botschaft von der Eigenständigkeit weiblicher Lebensentwürfe sympathisch. Nicht zuletzt ist ihr Buch sehr zugänglich: Milena Agus liefert leichte Literatur, ohne anspruchslos zu sein.

Rezensiert von Maike Albath

Milena Agus: Die Frau im Mond
Aus dem Italienischen von Monika Klöpfer
Hoffmann und Campe 2007
136 Seiten, 14,95 Euro