Vom Reiseparadies zum Pulverfass

Von Marc Dugge · 24.04.2012
Vor nicht einmal langer Zeit galt Mali als Paradies für Afrika-Touristen: Ein Land, reich an Kultur und atemberaubenden Landschaften, außerdem eine der wenigen funktionierenden Demokratien Afrikas. Doch Kriminelle und El-Kaida-Terroristen haben weite Teile Malis zur No-Go-Area gemacht.
Aus Furcht vor Entführungen und Anschlägen blieben die Touristen weg. Dann wurde - kurz vor offiziell anberaumten Wahlen - im vergangenen Monat der Präsident vom Militär aus dem Amt geputscht. Jetzt reiht sich das Land in die wachsende Zahl afrikanischer Krisenstaaten ein.

Bis vor zwei Jahren lief es gut, erzählt Modimo Samaké. Er steht vor dem Hotel Amitié, einem großen Luxushotel in Bamako. Damals hat er noch Geländewagen an Touristen vermieten können. Er hat sie durchs Land gefahren. Nach Gao, Mopti, ins Dogon-Land, ins sagenumwobene Timbuktu. Und die Touristen waren begeistert. Doch seit Januar steht er sich hier die Beine in den Bauch.

"Manchmal kommt es vor, dass ich einen Monat lang keine einzige Reise mehr mache. Wenn die Hilfsorganisationen nicht wären, würden wir gar nichts mehr verdienen. Viele von uns verkaufen ihre Autos, um an Geld zu kommen. Auch ich habe meins gerade verkauft, von dem Erlös will ich eine Geflügelfarm aufmachen."

Hühner statt Touristen. Irgendwie muss Modimo ja seine Frau und seine neun Kinder zu ernähren. Denn dass die Touristen bald zurück nach Mali kommen, daran glaubt er nicht. Ja, es ist geradezu absurd, in diesen Tagen an Tourismus zu denken. Seit Ende März sind die meisten Ausländer ausgereist aus Mali, viele Botschaften arbeiten nur noch mit Notbesetzung.

Auf dem Kunsthandwerksmarkt in Bamako ist davon auf den ersten Blick nichts zu merken. Ein Mann schweißt Metall, ein Junge schnitzt an einem kleinen Elefanten aus Ebenholz, es riecht nach Schweiß und Ziegenleder. Alle arbeiten so weiter, als gäbe es Käufer. Doch auf den Regalen ist kaum noch Platz für all die Souvenirs, die längst Staub angesetzt haben. Was sollen wir auch sonst machen, sagt Handwerker Moussa:

"Das ist unsere Arbeit, wir müssen doch arbeiten! Wir arbeiten fürs Lager. Vielleicht können wir das eines Tages ja einmal verkaufen!"

Neben seiner Ladentür hat der Schmied Sounkalo ein großes Poster aufgehängt. Es zeigt Mouammar Al Gaddafi, in Uniform, mit einer seiner geliebten, dicken Sonnenbrillen. Das Poster ist vergilbt, Gaddafi längst tot – aber Sounkalo trägt den libyschen Revolutionsführer im Herzen. Denn als er noch lebte, ging es ihm besser.

"Wir haben Gaddafis Foto aufgehängt, weil er viel für die Afrikaner getan hat. Er hat hier so viel Geld investiert. Deswegen mochten wir ihn. Sein Tod hat uns schockiert und uns viele Probleme bereitet!"

Sounkalo ist mit dieser Meinung nicht allein. In Bamako hat Gaddafi immer noch seine Fans. Denn er hat zu seinen Lebzeiten viele Projekte finanziert: Straßen, Moscheen, Hotels. Gaddafi hat auch dafür gesorgt, dass Malier im reichen Libyen Arbeit finden – und Geld zu ihren verarmten Familien in die Heimat schicken konnten. Heute ist alles anders. Die Gaddafi-Projekte stehen still. Viele Malier sind in Libyen arbeitslos, können kein Geld mehr schicken, müssen in die Heimat zurückkehren.

Gaddafis Sturz hat Mali erschüttert. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Nach seinem Tod haben Angehörige der Volksgruppe der Tuareg im Norden Malis eine Rebellion gestartet. Tuareg, die früher in Libyens Armee für Gaddafi gekämpft hatten. Und die nun ihre Stunde gekommen sehen, um im Norden Malis für einen eigenen Tuareg-Staat zu kämpfen, der den Namen "Azawad" tragen soll.

Die Rebellen haben sich an Gaddafis Waffenarsenalen reich bedient, sie sollen besser ausgerüstet sein als die Regierungstruppen. Seit Januar haben sie Schritt für Schritt den riesigen Norden Malis unter Kontrolle gebracht – und der Armee das Fürchten das Fürchten gelehrt. Modibo Goita, Dozent an der Schule für Friedenssicherung in Bamako:

"Die Kämpfer aus Libyen hatten rund 3000 Luftabwehrraketen dabei! Ich habe damals schon gesagt: Das sind Deserteure. Wenn sie hierherkommen, müssen sie entwaffnet und die Waffen zurück nach Libyen geschickt werden. Das ist internationales Recht. Aber der Staat hat nichts getan!"

Es ist nicht die erste Rebellion dieser Art. Immer wieder haben radikale Tuareg zu den Waffen gegriffen, oftmals unterstützt vom libyschen Diktator Gaddafi. Doch im Laufe der Zeit habe Gaddafi viele Tuaregs enttäuscht, so Moussa Ag Attaher, Sprecher der Rebellengruppe MNLA:

"Der libysche Diktator Gaddafi hat immer nur so getan, als würde er die Tuaregs unterstützen. In Wirklichkeit hat er sie nur für seine teuflischen Machtspiele ausgenutzt. Er hat sie an verschiedenen Fronten kämpfen lassen, viele sind für Dinge gestorben, die nichts mit ihnen zu tun hatten. Unter Gaddafi konnte das Volk der Tuareg keine wirkliche Revolution lostreten, um seine Lebensumstände zu verbessern. Nun, da er nicht mehr da ist, konnten Tuaregs, die für Gaddafi gekämpft haben, Libyen verlassen. Das sind Männer, die gut bewaffnet und gut ausgebildet sind, darunter auch Offiziere."

Wohl niemals zuvor waren die Tuareg-Rebellen so gut ausgerüstet wie heute, niemals hatten sie so viel Wissen um Kriegsführung in ihren eigenen Reihen. Moussa Ag Attaher sitzt in einem Café in Marokkos Hauptstadt Rabat, rührt in seinem Minztee. Er ist ein junger, eloquenter und elegant gekleideter Tuareg. Er lebt in Frankreich, in Mali ist er ein Staatsfeind.

Ag Attaher beginnt von seinem Volk zu sprechen. Seit rund 1000 Jahren bevölkern die Tuareg die Wüsten von Mali, Algerien, dem Niger und Libyen. Die Tuareg sind Berber. Ein Nomadenvolk, das sich nicht nur durch seine blaue Kleidung und seine helle Haut von anderen Ethnien der Region abhebt, sondern auch durch eine ganz eigene Kultur. Das macht sie in der Region zu Außenseitern. Viele Tuareg fühlten sich diskriminiert, so Ag Attaher:

"Seit der Unabhängigkeit 1960 hat der malische Staat dem Volk des Azawad immer wieder klargemacht, dass es nicht willkommen ist. Wir haben immer wieder unsere Waffen niedergelegt, Friedensflammen angezündet, Abkommen unterzeichnet. Aber heute müssen wir eine bittere Bilanz ziehen. Die Regierung Malis hat uns niemals gewollt, sondern hat uns nur benutzt."

Das soll nun anders werden, hofft er. Für den Traum eines eigenen Staats müssen allerdings viele leiden. Vor allem die Zivilisten. Mehr als 260 000 Menschen sind nach UNO-Angaben vor den Kämpfen geflohen. Zum Teil auch in die Nachbarländer. Viele von ihnen sind selbst Tuareg. Ja, die Rebellen hätten beileibe nicht alle Tuareg des Landes hinter sich, so Zeidane Ag Sidalamine. Früher war er selbst Rebellenführer. Heute arbeitet er im Landwirtschaftsministerium von Mali:

"Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit der Tuareg-Bevölkerung hinter dem Staat steht und sich auch für seinen Bestand einsetzt. In den vergangenen zwanzig Jahren wurde so viel unternommen, um die Tuareg in den Staat zu integrieren und sich mit ihm zu versöhnen. Vielleicht hat das nicht alle zufriedengestellt, vielleicht war die Entwicklungspolitik auf lokaler Ebene nicht zielgerichtet oder effektiv genug. Aber man kann dem malischen Staat nicht vorwerfen, eine Politik der Ausgrenzung zu betreiben."

Das gilt besonders für den bisherigen Präsidenten, Amadou Toumani Touré, der in Mali nur nach seinen Initialen, ATT, genannt wird. Annette Lohmann von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako:

"ATT hat sich ja sehr durch seinen konsensualen Ansatz ausgezeichnet, Konflikte auch per Dialog, per Friedensvertrag zu lösen. Jetzt sehen wir, dass einige Akteure sich mit diesen Friedensverträgen, mit diesem Ansatz nicht identifizieren."

Das ist noch milde ausgedrückt. Die malische Armee konnte im Frühjahr nur hilflos zusehen, wie die Rebellen den gesamten Norden des Landes unter ihre Kontrolle gebracht haben. Stadt um Stadt, Kaserne um Kaserne. Ein Krieg in einer dünnbesiedelten, entlegenen Region. Eine Region, in die sich kaum ein Journalist traut - erst recht kein ausländischer. Soldaten erzählen von grauenhaften Massakern, die von Rebellen verübt wurden. Es gibt kaum Bilder von dem Krieg. Der Krieg wurde aber nicht nur in den internationalen Medien weitgehend ignoriert, sondern auch von der Regierung von Amadou Toumani Touré. Pierre Boilley von der Universität Paris im März 2012:

"Die Regierung räumt keine Niederlagen ein. Sie sagt dann beispielsweise: Gut, wir haben die Stadt Tessalit aufgegeben, aber es handelt sich nur um einen strategischen Rückzug. Viele haben das Gefühl, dass die Führung nicht die Wahrheit sagt."

Von ihrer Regierung fühlten sich die Soldaten alleingelassen. Es fehlte ihnen nicht nur an Munition, sondern auch an politischer Unterstützung. Deswegen putscht sich am 22. März eine Gruppe von Soldaten an die Macht.

"Die Verfassung ist bis auf weiteres ausgesetzt", sagt ein Soldat im staatlichen Fernsehen, "alle staatlichen Institutionen sind bis auf weiteres aufgelöst. Es wird eine Regierung der Nationalen Einheit gegründet werden, nach Beratungen mit allen relevanten Kräften der Nation."

Die Zielscheibe des Putsches ist Präsident Amadou Toumani Touré. Er muss aus dem Präsidentenpalast fliehen, angeblich schlägt sich mit einer Gruppe von treuen Soldaten durch den Wald – und wird dann von den Militärs für Tage festgehalten. Die Putschisten werfen ihm vor, mit seiner Ignoranz die Sicherheit des Landes geopfert zu haben. Mali müsse nun ausbaden, was ATT ihm eingebrockt habe.

In früheren Friedensverhandlungen mit den Tuareg hatte der Präsident eingewilligt, das Militär aus dem Norden Malis abzuziehen. Eine Entscheidung mit verheerenden Konsequenzen: Weil der Staat abwesend war, hatten nicht nur Tuareg-Rebellen leichtes Spiel. Sondern auch verschiedene kriminelle Banden, die Millionen verdienen mit dem Schmuggel von Kokain, Zigaretten oder auch Menschen. Und sie verdienen Geld, indem sie Ausländer entführen, um sie an die Terrororganisation "Al-Kaida im Islamischen Maghreb" weiterzuverkaufen. Auch sie, die radikalen Islamisten, konnten im Norden Malis in den vergangenen Jahren ein sicheres Rückzugsgebiet finden. Der malische Journalist Paul Mben:

"Wenn unser Präsident sagt, man müsse nichts gegen Al Kaida unternehmen, denn sie würden den Menschen nichts zuleide tun, dann irrt er sich! Al Kaida ist wie eine schädliche Alge, die sich immer weiter ausbreitet. Warum hat sich Al Kaida denn nicht in den Nachbarländern ausgebreitet? Weil man den Terroristen dort nicht die Möglichkeit dazu gegeben hat! Al Kaida ist heute überall in Mali, auch in Bamako. Sie haben Geschäfte, Restaurants, Tankstellen, Supermärkte. So waschen sie ihr Lösegeld. Wir konsumieren Al Kaida, wir leben mit Al Kaida!"

Experten bestätigen, dass Al Kaida in Mali gut Fuß gefasst hat. Insbesondere im verarmten Norden des Landes, auch dank der Lösegeldzahlungen. Modibo Goita von der Schule für Friedenssicherung in Bamako:

"Dieses Geld wird dann vor Ort investiert, auch für wohltätige Zwecke, die Terroristen integrieren sich so in die Gesellschaft. Der Staat ist dagegen machtlos. Die Region ist so schwer zu kontrollieren, es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu verstecken - auch Geiseln zu verstecken."

Der Einfluss der radikalen Islamisten in Mali zeigt sich jetzt. Im Windschatten der Tuareg-Rebellen haben auch die Islamisten den Kampf gegen die malische Armee aufgenommen. Und auch sie sind erfolgreich: Während Ende März die Militärjunta noch versucht hat, ihre neuerlangte Macht zu sichern, brachten die Islamisten strategisch wichtige Städte unter ihre Kontrolle. Über den Dächern von Gao und Timbuktu weht seitdem die schwarze Fahne der Salafisten. Kämpfer vieler islamistischer Strömungen sollen seither in den Norden Malis gekommen sein, auch Anhänger der berüchtigten nigerianischen Gruppe Boko Haram. In Timbuktu und Gao gilt seitdem für Frauen der Schleierzwang.

Viele Malier reiben sich verwundert die Augen. Denn in Mali herrscht eigentlich ein gemäßigter Islam vor, mit den Gedankenwelten der Salafisten können sich viele nicht identifizieren. Auch die Tuareg-Rebellen distanzieren sich von den Islamisten, Experten bestehen aber darauf, dass es durchaus Verbindungen gibt zwischen beiden Gruppen gibt. Die Tuareg-Rebellen jedenfalls haben ihren Kampf auch so gewonnen. Rebellensprecher Mossa Ag Attaher am Karfreitag im französischen Fernsehen:

"Heute ist ein großer Moment für das Volk von Azawad. Im Gedenken an jene, die gefallen sind und an das Volk, das all die Jahre für seine Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft hat, hat heute das Exekutivbüro die Unabhängigkeit des Staates Azawad beschlossen."

Außer den Tuaregs scheint sich allerdings niemand über diesen neuen Staat zu freuen. Nicht nur die Europäische Union, Frankreich und die USA wiesen die Unabhängigkeitserklärung zurück. Auch die Nachbarstaaten verweigern den Tuareg ihre Unterstützung. Jean Ping, Präsident der Afrikanischen Union:

"Heute rufen sie die Unabhängigkeit für den Norden Malis aus, später vielleicht für den Niger, anschließend für Algerien! Das geht dann immer so weiter. Man darf das nicht akzeptieren, sonst kann sich jede Gruppe, jeder Stamm auf sein Recht zur Selbstbestimmung berufen!"

Immerhin: Die Putschisten in Mali haben wieder von der Macht gelassen – und den Weg freigemacht für eine zivile Regierung. Der Druck der internationalen Gemeinschaft war zu groß. Doch die Herausforderungen für die neue Regierung sind riesig. Und es ist völlig unklar, ob sie eine Teilung des Landes noch verhindern kann. Ihr dürfte kaum etwas anderes übrig bleiben, als mit den Tuareg-Rebellen zu verhandeln. Denn dass es der malischen Armee gelingen kann, den Norden zurückzuerobern, gilt als unwahrscheinlich. Und auch eine mögliche Eingreiftruppe der ECOWAS von zwei bis dreitausend Mann dürfte gegen die bestens ausgerüsteten Rebellen kaum etwas ausrichten können. Schon warnt der Staatschef von Mauretanien, Mali drohe zu einem neuen Afghanistan zu werden. Sicher ist: Mali ist zu einem gefährlichen Land geworden. Und das müsse auch Europa interessieren, so Annette Lohmann von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako:

"Weil es sich eben nicht um einen "innermalischen" Konflikt und um Tuareg handelt - sondern es handelt sich hier um Terrorismus, um Al Kaida, die jetzt auch in Westafrika Fuß fassen, um Entführung von Ausländern, um Drogenschmuggel – das sind Aspekte, die uns ganz konkret berühren, und die hier vor allem vor Ort die Lage weiter destabilisieren, das ist eine höchst gefährliche Entwicklung, und es sollte uns auf jeden Fall ein Anliegen sein, die Lage weiter zu stabilisieren."
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