Vom Morgengebet zur Mitternachtskrankheit

Von Astrid Mayerle · 09.08.2008
Meditation ist in. Kaum ein Begriff ist so positiv besetzt wie dieser. Und zugleich so unscharf. Er verspricht, die Geistesgegenwart zu steigern, das Bewusstsein zu schärfen, aber auch das Atemvolumen zu erhöhen. Es gehe um die Erfahrung von zeitlicher und räumlicher Einheit, sagen Yogalehrer und Religionswissenschaftler.
175 Herzschläge pro Minute, die Körpertemperatur steigt, der Sauerstoffgehalt im Blut nimmt zu. Nach 42 Kilometern hat der Körper etwa vier Liter Flüssigkeit verloren, die Körpertemperatur liegt jetzt bei 39 Grad.

"Der Klang meiner Schritte, meine Atmung und mein Herzschlag verbanden sich zu einem einzigartigen, vielgestaltigen Polyrhythmus."(Haruki Murakami)

Körpereigene Opioide, auch Endorphine genannt, schwappen über die Gehirnlappen. Runner's High heißt dieser Höhenflug. Mediziner und Gehirnforscher können genau erklären, was im Körper passiert, wenn wir joggen oder einen Marathonlauf absolvieren. Nur, warum uns dieses einsame Training, diese anstrengende Auslieferung an uns selbst, entspannt, Ängste nimmt und sogar gegen Depression hilft, ist gar nicht so einfach zu erklären.

Joggen, Yoga, Autogenes Training, Shiatsu, Meditation und Gebet - eines haben all diese Aktivitäten gemein: Wir sind mit uns allein. Von "Einsamkeitstechniken" spricht daher der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Einsamkeit meint in diesem Zusammenhang nicht jenen unangenehmen Zustand der grüblerischen Anspannung oder diese diffuse Langeweile, sondern das genaue Gegenteil: ein bewusstes, selbstgewolltes Mit-sich-Alleinsein. Thomas Macho ist der Meinung, es gehe darum,

"....zu zeigen, dass, wenn wir einsam sind, meist ein Ziel verfolgen und nicht etwas erleiden, dass Einsamkeit auch eine Technik sein kann, nicht nur ein Schicksal, dass Einsamkeit in dieser Hinsicht sogar ein Glück der Verdopplung bedeuten kann, bei dem ich die Gelegenheit habe, mich zu mir selbst zu verhalten."

"Es bereitet mir keinerlei Unbehagen, allein zu sein. Ich finde es weder schwierig, noch langweilig, am Tag ein oder zwei Stunden allein zu laufen und dann vier oder fünf Stunden allein am Schreibtisch zu sitzen. Schon in meiner Jugend hatte ich diese Neigung. Vor die Wahl gestellt, habe ich es immer vorgezogen, ein Buch zu lesen oder allein Musik zu hören, statt mit anderen zusammen zu sein."

Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami widmet dem Alleinsein sein jüngstes Buch und nennt es: "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede". Der Marathonlauf, diese Hochleistungsübung, diese extreme Form des Alleinseins mit sich selbst, hat Murakami zu seinem Thema gemacht.

Er ist Langstreckenläufer, trainiert seit Jahrzehnten. In seinen Hochzeiten lief er mehr als 300 Kilometer pro Monat. Mehrmals hat er den Boston-Marathon absolviert. Seinen ersten Marathon lief Haruki Murakami an einem Sommermorgen in Athen.

"Die Luft ist klar und frisch wie ein mutiger Entschluss."

Befreiung oder Leiden bis zur Selbstaufgabe? Der Mythos will es, dass der erste Marathonläufer am Ziel nach 42 Kilometern von Athen nach Sparta zusammenbrach und starb.

Wenn Haruki Murakami vom Laufen spricht, erinnern seine Worte an die Erfahrung während der Meditation, wie sie Mönche oder Zen-Buddhisten beschreiben:

"Wenn ich laufe, laufe ich einfach. Normalerweise in einer Leere. Oder vielleicht sollte ich es umgekehrt ausdrücken: Ich laufe, um Leere zu erlangen. Aber natürlich schlüpft stets der eine oder andere Gedanke in diese Leere. Klar, denn in den Herzen der Menschen kann es keine wahre Leere geben. Der menschliche Geist ist nicht stark genug, um ein echtes Vakuum zu halten, und auch nicht so konsequent. Ich sage nur, dass die Gedanken, die beim Laufen in mein Bewusstsein dringen, dieser Leere untergeordnet sind. Sie haben keinen Inhalt, sie tauchen auf und umkreisen die Leere wie eine Achse."

Thomas Macho: "Man kann den Sport im Sinne der Ekstasetechnik betreiben, wo es auf die Auslöschungserfahrung ankommt, oder man kann ihn als Kontemplationstechnik erfahren. Dieses Durchpusten des Gehirns, das Freiwerden von Routinen als die Erfahrung des Langstreckenläufers, der auch eine Art spiritueller Befreieung erlebt."

"Die Gedanken, die mir beim Laufen durch den Kopf gehen, sind wie Wolken am Himmel. Wolken in verschiedenen Formen und Größen. Sie kommen und ziehen vorüber. Der Himmel jedoch bleibt immer derselbe." (Murakami)

Wie bei der Meditation: Gedanken kommen und gehen. Der Benediktinermönch und Zen-Meister Willigis Jäger, der in Würzburg das Meditationszentrum St Benedikt gründete, beschreibt genau diesen Moment als Ausgangspunkt für die Meditation: die Gedanken weiterziehen lassen. Und ein anonymer englischer Mystiker schrieb im 15. Jahrhundert:

"Weise jeden Gedanken ab, mag er noch sie tief und klar, noch so gut und wertvoll in sich sein. Bedecke ihn mit einer dichten Wolke des Vergessens."

Die christliche Tradition gebraucht die Begriffe Kontemplation und Meditation oft synonym. Der Religionswissenschaftler und Zen-Lehrer Michael von Brück unterscheidet allerdings zwei verschiedene Ausrichtungen:

"Man kann sagen, Meditation ist die Konzentration auf einen Gegenstand. Das kann ein Bibeltext sein, das kann eine sehr intensive Beschäftigung mit einem Bild, mit einem Symbol sein, was immer den Geist fokussiert (...) Unter Kontemplation hingegen versteht man die Konzentration des Geistes, aber ohne einen spezifischen Inhalt, eine Versenkung des Geistes in sich selbst."

Barbara Ostertag ist Yogalehrerin. Nachdem sie in einer Musikerfamilie aufwuchs und Musik studierte, verband sie Yoga mit dem Hören von Klängen. Mehrere Gongs hängen in ihrem Übungsraum. Sie selbst schlägt die großen, messingfarbenen Metallscheiben an, während sich ihre Schüler auf die Übungen konzentrieren:

"Der Weg in die Stille führt immer über den Geist. Im Yoga geht es immer um den Geist, diesen unruhigen Geist, der ständig in Bewegung ist, der ständig irgendwo ist. Stille findet man nur, indem man ihn ausrichtet."

Michael von Brück: "Ausrichtung ist, wenn man das Wort hört, eine Konzentration des Körpers und des Geistes in eine bestimmte Richtung. Das würde in dem Spektrum der Bedeutung, die ich vorher unterschieden habe, zur Meditation gehören, denn das ist eine Ausrichtung auf etwas bestimmtes, in eine bestimmte Richtung."

Barbara Ostertag: "Einatmen...., ausatmen....., im Verlauf des Ausatmens beugt sich das Knie, vollständig ausatmen, Knie zurück, Arme senken, Kopf senken...."

Michael von Brück: "Nun wird der Begriff der Ausrichtung in der psychosomatischen Medizin, in körpertherapeutischen Ansätzen spezifischer verwendet. In dem Sinne, dass Ausrichtung eine Ausbalancierung der verschiedenen Körperebenen, des oberen Kreuzes, des unteren Kreuzes, der Arme, Beine, des Halses und des Kopfes ist, in dem Sinne, dass die einzelnen Glieder in ihrer natürlichen Form ruhen.

Insofern ist in dieser Ausrichtung eine Ruhe. Diese Haltung ist aber keine passive, sondern eine aktive Spannung, die gleichzeitig entspannt ist. Ausrichtung ist die Zusammenfügung der Teile in ein Ganzes."

Barbara Ostertag: "Ausrichtung passiert auch über das Tönen oder über Rezitation, über das Lauschen, das Hören, das Atmen. Das spielt auch eine wichtige Rolle beim Tönen, dass man dem Geist eine Richtung gibt. Man muss dem Geist Themen geben, wo er gern hingeht. Man könnte das mit dem Verliebstsein vergleichen. Wenn man verliebt ist, dann richtet sich das ganze Wesen, alles nach diesem geliebten Menschen aus."

Michael von Brück: "Die Harmonisierung der Teile auf ein Ganzes können Sie auch sofort im Geistigen verstehen, das ist die Ausrichtung der gesamten seelischen, geistigen Kräfte des Menschen in einer balancierten Harmonie auf den Grund des Lebens, das Ganze, Gott."

Der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho definiert Einsamkeitstechniken als eine "Strategien zur Initiierung und Kultivierung von Selbstwahrnehmungen". Bereits in frühen Kulturen wurden Einsamkeitstechniken als Aufmerksamkeitsübungen, als Konzentrationsstudien praktiziert, das Gegenteil von Trance- und Ekstasetechniken.

Den antiken Philosophen ging es - übrigens ebenso wie später den Wüstenheiligen - um die Erhöhung der inneren Wachsamkeit. Also zunächst nicht primär um eine Gotteserfahrung. Der Sokrates-Schüler Antisthenes sieht in der Einsamkeit die Fähigkeit "mit sich selbst zu verkehren". Übrigens trifft dies auch zu, wenn die Übungen in einer Gruppe stattfinden.

Religiöse und profane Einsamkeitstechniken sind sich in einem erstaunlich ähnlich: Bei beiden spielt die richtige Atmung eine wichtige Rolle. Der Religionswissenschaftler Michael von Brück:

"Das ist meine Erfahrung beim Yoga, dass im Yoga - alles mit dem Körper beginnt. Das erste, was geschieht, ist eine intensivere Körperwahrnehmung, der Körper wird mit dem Atem verbunden. Man spürt durch intensive Achtsamkeit in die einzelnen Regionen des Körpers, die gerade bewegt werden.

Ich entdecke, wie ich die Bewegung in meinem Körper selbst bin. Wachheit, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit kommt durch die Körpererfahrung und dann als eine Gesamtwahrnehmung des gesamten Organismus. Es ist wie in der Musik, aber im Yoga ist der Leib das Instrument. Ich spiele den eigenen Körper."

Viele Menschen üben Einsamkeitstechniken, um der beruflichen Belastung oder anderen Stressfaktoren entgegenzuwirken. Man könnte aber auch umgekehrt fragen, nicht wogegen, sondern wofür ist dieser Rückzug in sich selbst gut?

Yoga-Schüler:
"Ich hol mir die Kraft, die Freude und die Gelassenheit für den Alltag."

"Man kommt zu sich selber, man kommt zur Ruhe, man entspannt. Es ist wie eine Batterie, die wieder aufgeladen wird. "

"Ich denke, eine Batterie, das ist ein feststehender Begriff, aber es ist mehr, du entdeckst dich in deiner Dimension, das geht immer weiter. Das würde die Batterie verhindern, die kann nur wieder auf ein gewisses Level gefüllt werden."

Thomas Macho: "In gewisser Hinsicht besteht Kontemplation für mich in einer Technik, sich von dem Ich, das permanent in Wahrnehmungen und Handlungen involviert ist, zurückzuziehen auf das Beobachter-Ich, auf das, was Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft das 'Ich denke' genannt hat, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss, das immer wie ein unsichtbarer Zeuge dabei ist. Das klingt esoterisch, ist es aber nicht.

Wenn man denkt, dass in der Stoa ein Wächter-Ich empfohlen wurde, um zu lernen richtig zu handeln oder dass im indischen Yoga der innere Zeuge als eine Funktion des Selbst angesprochen wurde, die jenseits von allen Vertrickungen der Welt im Beobachten, im Wahrnehmen zuhause fühlt. Kontemplation ist Selbstverdopplung auf Seiten des aufmerksamen, des beobachtenden, des nichtinvolvierten Ich. "


"Wer in der Wüste sitzt und der Herzensruhe pflegt, ist drei Kämpfen entrissen: Dem Hören, dem Sehen, dem Reden. Er hat nur noch einen Kampf zu führen: den gegen die Unreinheit",

überliefert der Heilige Antonius, auch Antonius der Große genannt - die biblische Hauptfigur oder der religiöse Held in Sachen Einsamkeitstechniken. Antonius der Große wächst in Ägypten auf und wird später als Einsiedler zum Urmönch: Er zieht sich auf den Berg Kolzim zurück. Von dort kann er das Rote Meer sehen, seine Schüler besuchen ihn.

Das Leben des Antonius steht dafür, dass er durch Rückzug und Gebet den Stimmen des Teufels, also bedrohlichen Obsessionen Widerstand leisten konnte:

"Der Teufel gab ihm schmutzige Gedanken ein, Antonius verscheuchte sie durch sein Gebet, jener stachelte ihn an, er aber, gleichsam errötend, schirmte seinen Leib durch den Glauben, durch Gebet und Fasten. Der arme Teufel ließ sich sogar herbei, ihm nachts als Weib zu erscheinen und alles Mögliche nachzumachen, nur um den Antonius zu verführen. Dieser aber dachte an Christus und den durch ihn erlangten Adel der Seele, an ihre geistige Art und erstickte die glühende Kohle des Wahnes."

Kann ein Gebet ein kontemplativer Akt sein? Die spanische Mystikerin Theresa von Avila unterschied im 17. Jahrhundert vier Stufen des Gebets. Die erste, die einfachste Stufe meint das Gespräch mit Gott. Der Betende tritt Gott wie ein Kind gegenüber, etwa mit einer Bitte, eine Krankheit zu heilen oder für eine gute Zukunft zu sorgen. Die Vorstellung eines patriarchalischen Übervaters, dem der Mensch als Bittsteller begegnet. Michael von Brück:

Michael von Brück: "Die nächste Stufe ist das, indem ich nicht einzelne Dinge möchte, sondern indem ich nur Gott möchte. Das ist ein Gebet der intensiveren Beziehung, wie es in der Liebe ist. Ich möchte nichts anderes als dich.

Die dritte Stufe ist das Gebet, das in mir selbst ist. Wo ich gar nicht das Subjekt des Betens bin, sondern Gott betet in mir. Paulus drückt das sehr schön aus im Römerbrief, im achten Kapitel, wo er sagt, es ist nicht ich, der betet, sondern der Geist in mir. Bach hat das so schön vertont in dieser wunderbaren Motette. Ich öffne mich für die Kraft Gottes, der anfängt, in mir zu rumoren."

Erst die letzte Stufe des Gebets entspricht bei Theresa von Avila dem, was wir Kontemplation nennen.

Michael von Brück: "Das ist die völlige Öffnung des Geistes. Es ist kein Unterschied mehr zwischen Gott und mir, das ist eine völlige Einheit. Das sind Erfahrungsebenen. Man kann sie selbst in der Kontemplation erfahren, in der christlichen Mystik, in der indischen, genauso wie in der islamischen."

Allerdings: In jeder Religion ist es gleich schwer und bedarf es jahrelanger Übung, sich diesen letzten Stufen anzunähern. Margarethe Mitscherlich hat es geschafft. Michael von Brück erzählt von seiner Begegnung mit der bekannten Psychoanalytikerin:

Michael von Brück: "Sie sagte, sie glaube nicht an Gott, aber sie bete. Wie geht das? Dann hat sie das etwas genauer erläutert: Gott nicht als Übervater zu sehen, nicht als eine Projektion, sondern als eine innere Kraft, eine geistige Präsenz, die in ihr ist, mit der sie in Kontakt kommt durch die Sprache des Gebets, durch die Konzentration auf das Innere."

Seit der immer stärkeren Präsenz der Neurowissenschaften in den Medien, versuchen Forscher der Frage nachzugehen, wie sich im Gehirn Bewusstseinszustände und Erfahrungen von Einsamkeitstechniken abzeichnen. Die jüngste gemeinsame Studie der Technischen Universität München und der Universität Bonn hat Jogger vor und nach einem zweistündigen Langstreckenlauf untersucht.

Mit einem bildgebenden Verfahren, der sogenannten Positronen-Emissions-Tomographie, konnte herausgefunden werden, was im Gehirn beim sogenannten Runner's High, passiert: Endorphine werden ausgeschüttet. Sie bewirken nicht nur Stressabbau, sondern können sogar Schemerzen lindern.

Der amerikanische Neurobiologe Richard Davidson unterhielt sich mit dem Dalai Lama und untersuchte buddhistische Mönche. Diese Menschen hatten ihrem Leben viele tausend Stunden meditiert. Richardson wollte durch Aufzeichnungen mit dem EEG, der Electroencephalografie, einer Methode zur Bestimmung von Gehirnaktivitäten, herausfinden, wie sich das Gehirn von Meditierenden über längere Zeit verändert.

Michael von Brück: "Da ist es so, dass wir bei Menschen, die viel Erfahrung in Meditation haben, die Wellen, die auftreten, wenn eine vollkommene Entspannung da ist - wie bei normalen Menschen im Tiefschlaf oder wenn sie am Ozean sitzen und die Wellen des Meeres beobachten, - dass diese Wellen gleichzeitig aktiv sind, mit denen, die bei äußerster Wachsamkeit da sind. Also vollkommene Entspannung und äußerste Wachsamkeit sind bei Menschen, die viel meditiert haben, gleichzeitig präsent. "

Diese beiden Zustände sind normalerweise getrennt, entweder wir sind entspannt oder konzentriert.

Michael von Brück: "Hier kann man sehen, dass eine Bewusstseinskonfiguration erlernt werden kann, die das verbindet. Interessant ist, dass das genau die Beschreibung ist, die wir aus den klassischen Religionstraditionen, etwa dem Yoga, dem Buddhismus kennen."

Also eine wissenschaftliche Bestätigung von Erfahrungen, wie sie so oder ähnlich von Praktizierenden bereits vor den Studien beschrieben und berichtet wurde. Wie weit kann man mit diesen bildgebenden Verfahren der Naturwissenschaften in die Gedanken- und Erfahrungswelt des Meditierenden vordringen?

Michael von Brück: "Diese Kurven, die Sie da sehen, aus der EEG Ableitung sagen nichts darüber, was der Betreffende denkt. Die sagen nichts über die Inhalte, schon gar nichts über das subjektive Erleben des Betreffenden."

Keine Auskunft über Emotionen. Von jenem große Versprechen der Neurowissenschaftler, wir könnten "unserem Gehirn beim Denken zusehen", sind wir derzeit also noch weit entfernt. Wir können allenfalls ermitteln, welche Gehirnregionen besser durchblutet oder aktiver sind als andere.

Michael von Brück: "Die Naturwissenschaft hat offensichtlich so eine Art Instanz einer letzten Gültigkeit, einer letzten Prüfung übernommen und was nun naturwissenschaftlich durch bestimmte Messdaten festzustellen ist, das ist dann gültig. Das halte ich für äußerst reduktionstisch und schwierig. Ich glaube, wenn Sie eine tiefe Liebeserfahrung haben, dann gehen Sie auch nicht ins chemische Labor, ist die echt oder nicht."

"Einsamkeit kann jedoch auch wie eine Säure, die langsam aus einer Flasche tropft, das Herz verätzen, ohne dass der Betroffene es merkt. Sie ist wie ein scharfes zweischneidiges Schwert." (Murakami)

Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami hat auch die andere Seite der Einsamkeit erfahren. Kritisch kommentiert auch der Mystiker Meister Eckhart den allzu rigorosen Selbstrückzug:

"Ich wurde gefragt: Manche Leute zögen sich streng von den Menschen zurück und wären immerzu gern allein, und daran läge ihr Friede und daran, dass sie in der Kirche wären - ob dies das Beste wäre? Da sage ich: Nein! Und gib acht, warum.

Mit wem es recht steht, wahrlich, dem ist's an allen Stätten und unter allen Leuten recht. Mit wem es aber unrecht steht, für den ist's an allen Stätten und unter allen Leuten unrecht. Wer aber recht dran ist, der hat Gott in Wahrheit bei sich; wer aber Gott recht in Wahrheit hat, der hat ihn an allen Stätten und auf der Straße und bei allen Leuten ebenso gut wie in der Kirche oder in der Einöde oder in der Zelle."


Yogaschülerin: "Es kann auch sein, dass man zum Heulen anfängt, weil sich dann etwas löst. Jeder sagt, das Weinen tut gut. Ich dachte mir hinterher, jetzt könnte ich sterben. Das war so erfüllend."

Yogalehrerin: "Am Dienstagabend, da hat sich keiner mehr von der Stelle gerührt, und am Schluss saßen alle da, es hat alles gestimmt. Es war ein Zustand, wo man keine Fragen mehr hat, keine Wünsche. Das war genau richtig.""

"Das meiste über mich selbst und über das Schreiben von Romanen habe ich durch mein tägliches Lauftraining gelernt, auf natürliche Weise. Wie stark darf ich mich antreiben, ohne mich zu überfordern? Wie viele Pausen brauche ich, ab wann wird die Ruhe zu viel? Wie tief darf ich in mein Inneres eintauchen, ohne mir der äußeren Welt bewusst zu sein?" (Murakami, 75)

Schreiben und Joggen gehören für Murakami unmittelbar zusammen. Das mag erstmal befremden, doch diese beiden Einsamkeitsübungen, die zunächst so verschieden wirken, sind sich in manchem sehr ähnlich: Beide erfordern einen enormen Energieaufwand und Konzentration, beide können sich auch zur Sucht entwickeln.

Dem Bewegungssüchtigen steht der Schreibsüchtige gegenüber: "Mitternachtskrankheit" nennt die amerikanische Neurologin Alice Weaver Flaherty poetisierend die Hypergrafie, den Schreibrausch, den Drang, zu schreiben. Einer der berühmtesten Hypergrafiker war Dostojewki. Der Kulturwissesnchaftler Thomas Macho ist überzeugt,

"....dass es viele Einsamkeitsechniken gibt, die etwas mit Medien zu tun haben. Dass die Menschen in dieser Selbstkonfrontation nicht nur meditieren, sondern auch etwas aufschreiben. Etwa, dass die Kultur des Briefschreibens in der Antike ganz viel mit dem zu tun hatte, was Seneca in einem Brief als die Erfindung des Wächter-Selbst beschreibt. Dieses Wächter-Selbst erfindet er in dem Maß, in dem er selber den Brief schreibt und sich sein Gegenüber vorstellt und sich vorstellt, was er für dieses Gegenüber bedeuten mag."

Wie das Schreiben, haben Meditation und andere Einsamkeitstechniken ähnliche Motive: Konzentration, Klärung der Gedanken, Schärfung des Bewusstseins, ein Löslösen von allzu vertrauten Denkmustern, eine Schärfung der Wahrnehmung und die Sensibilisierung für sinnlich-ästhetische Phänomene. Das klingt alles sehr nachvollziehbar. Doch was im Bewusstsein des Einzelnen passiert, ist ziemlich schwierig zu beschreiben.

"Willst du Gott auf göttliche Weise wissen, so muss dein Wissen zu einem reinen Unwissen und einem Vergessen deiner selbst und aller Kreaturen werden."

Meister Eckhart bringt scheinbar unvereinbare Gegensätze zusammen – Wissen und Unwissen. Eckhart spricht auch von einem "nichterkennenden Erkennen". Solche und ähnliche Gegensätze sind typisch für gesteigerte Geistesmomente, die durch Einsamkeitstechniken initiiert sind. Michael von Brück kennt solche Zustände von Yoga und Meditation. Auch er spricht von der Vereinigung der Gegensätze:

"Dann wird innen und außen eins, dann wird die Zeit eins. Zeitlich und räumlich kommt es da zu einer Erfahrung von Einheit. Ich selbst verschwinde, bin aber ganz da. Man kann das nur in paradoxen Worten ausdrücken oder um mich noch einmal hinter die Tradition zu stellen: Es gab im 15. Jahrhundert einen Philosophen und Mystiker, gleichzeitig Kirchenpolitiker Nikolaus von Kues, der die kontemplativen Erfahrungen wunderbar beschrieben hat. Er spricht dies so klar aus, wie kein anderer Geist in der europäischen Tradition. Er spricht von der coincidenzia oppositorum, also von dem Zusammenfall der Gegensätze und das wird erfahrungsgemäß in der Meditation geschehen, demjenigen der übt. "