Vom Beben lernen

Von Dirk Asendorpf · 09.03.2013
2011 erschütterte eines der fünf stärksten je gemessenen Erdbeben die japanische Insel Honshu; der darauf folgende Tsunami zerstörte das Atomkraftwerk Fukushima. Schnell begann der Wiederaufbau, aber nun kämpft die Region mit den wirtschaftlichen Folgen - und versucht sich in besserer Prävention.
Ishinomaki, 400 Kilometer nördlich von Tokio: Zwei Dutzend Menschen drängen sich auf dem Dach eines Verwaltungsgebäudes am Hafen. Es ist ein Tsunami Hinan Biru, eines der mindestens dreistöckigen Gebäude aus Stahlbeton, die überall entlang der japanischen Küste nach einer Tsunamiwarnung als Fluchtorte dienen. Erdbeben gibt es hier regelmäßig, doch diesmal hat die Erde so stark und so lang gebebt wie es noch keiner der Menschen auf dem Dach je erlebt hatte.

Der Geologe Hiroki Sone:: "Zehn Minuten nach dem Erdbeben habe ich im Radio die Tsunamiwarnung gehört. Die erste Welle sollte um 15:10 Uhr eintreffen. Tatsächlich kam sie dann aber erst um 15:36 Uhr, genau 50 Minuten nach dem Erdbeben. Die Leute, die vorsichtig waren, hatten also reichlich Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen."

Kunio Suno war in seinem Büro als die Erde wackelte wie nie zuvor. Er ist Präsident des Fischmarkts von Ishinomaki, dem größten der Region. Hilflos musste er zusehen, wie das Wasser seine Heimatstadt bis zu 20 Meter hoch überflutet, Häuser zerschmettert, Autos und andere lose Gegenstände zu Schrottbergen auftürmt.

Inzwischen ist der Alltag nach Ishinomaki zurückgekehrt. Vier Monate nach dem großen Beben konnte Kunio Suno den Fischmarkt wieder eröffnen, 70 Prozent der damals weitgehend zerstörten Fangflotte ist heute wieder im Einsatz.
Jeden Morgen entladen die Kutter den Fang der Nacht, heute hieven die Kräne tonnenweise silbern glänzenden Thunfisch in Container am Kai. Gabelstapler schaffen sie zum Fischmarkt gegenüber, wo sie sofort unter den Hammer kommen.

Mitten in der Auktionshalle klafft ein großes Loch, der Fußboden liegt dort einen Meter tiefer als an den umliegenden Ständen. Es ist eine kleine Gedenkstätte, die einen Blick auf das ursprüngliche Fundament ermöglicht.

"Durch das Erdbeben ist der gesamte Erdboden entlang der Küste um ungefähr einen Meter abgesackt. Deshalb konnte das Wasser nach dem Tsunami auch lange nicht abfließen. Bis heute überspült es bei jeder Springflut den Kai."

Der Grund dafür lag 130 Kilometer vor der Küste. Tief unter dem Meeresboden hatte sich der Druck, mit dem die pazifische Platte in Richtung Japan drückt, ruckartig entladen. Auf 400 Kilometern Länge war das Gestein aufgerissen, die obere Erdplatte schoss um bis zu 27 Meter nach vorn und drückte Japan mit ihrem Gewicht nach unten. Dank erdbebensicherer Architektur hielten fast alle Gebäude den extremen Erschütterungen stand. Doch auf die Riesenwelle war die Küstenregion nicht vorbereitet.

Der Geologe Hiroki Sone: "Wir waren lange Zeit davon ausgegangen, dass es in der Tohoku-Region noch nie ein Erdbeben der Magnitude neun gegeben hatte, also waren auch die Schutzwälle nicht auf so etwas ausgelegt. Erst vor wenigen Jahren war entdeckt worden, dass es im 10. Jahrhundert doch schon einmal so stark gebebt hatte."

In Fachkreisen war das schon bekannt, in der Bevölkerung aber nicht. Viele Menschen fühlten sich so sicher hinter den Tsunami-Mauern, dass sie trotz Warnsirenen nicht auf höher gelegenes Gelände flüchteten. Auch die Atomreaktoren von Fukushima haben das Erdbeben zwar gut überstanden, waren dem Tsunami aber schutzlos ausgeliefert. Von radioaktivem Fallout blieb die 150 Kilometer entfernte Hafenstadt Ishinomaki zwar weitgehend verschont. Doch die wirtschaftlichen Folgen sind trotzdem enorm. Kennichi Horiuchi ist in der Stadtverwaltung für den Wiederaufbau zuständig:

"Wegen der Nuklearkatastrophe ist der Absatz unserer landwirtschaftlichen Produkte und der Fischerei stark zurückgegangen. Die Menschen in anderen Landesteilen haben Angst vor der Strahlenbelastung."

Insgesamt muss die Präfektur Miyagi, zu der Ishinomaki gehört, wirtschaftliche Schäden in Höhe eines gesamten Jahresbruttosozialprodukts verkraften. Doch zu sehen ist davon so gut wie nichts mehr – keine Ruinen, keine Wracks, kein Schutt. Auffällig sind nur die riesigen, völlig leeren Flächen entlang der Küste. Hier war das Land auf einer Breite von bis zu zehn Kilometern vom Meer überspült. Als das Wasser nach einigen Tagen abfloss, nahm es einen Teil der zermalmten Gebäude mit. Der Rest wurde eingesammelt und in den Hafen von Ishinomaki transportiert.

In 20 Meter hohen Bergen warten die grob getrennten Materialien jetzt auf ihre Entsorgung in einer schnell errichteten gewaltigen Recyclinganlage. Zerbeulte Waschmaschinen und Kühlschränke sind aufgetürmt, daneben Schrottautos und Altreifen. Erdbeben und Tsunami hatten auf einen Schlag eine Müllmenge verursacht, wie sie sonst in 100 Jahren anfällt. Dutzende Bagger schaufeln Schutt auf lange Förderbänder. Masashi Sayama muss ein Megafon benutzen, um sich in dem Lärm verständlich zu machen. Er ist in der Umweltbehörde für das Recycling zuständig.

"Auf der rechten Seite sehen Sie die Verbrennungsöfen. Links werden die radioaktiv belasteten Materialien verbrannt. Dort hinten wird die Asche auf schädliche Inhaltsstoffe überprüft. Auch die Flugasche wird herausgefiltert und genau analysiert. Es gelten die gleichen Vorschriften wie bei der normalen Hausmüllverbrennung."

Alle nicht brennbaren Materialien werden in ihre Inhaltsstoffe getrennt. Feinschutt fällt durch Schüttelsiebe, riesige Magnete ziehen Eisenteile von den Förderbändern. Ganz oben stehen zwei Dutzend Mitarbeiter und sortieren Mischabfall per Hand. Atemmasken schützen sie gegen den Staub, Kopfhörer gegen den Lärm.

Zwischen 600 und 900 Mitarbeiter sind rund um die Uhr auf der Anlage im Einsatz. Innerhalb von drei Jahren sollen sie alle Müllberge abgetragen haben.

Mit ähnlicher Akribie kümmern sich Präfektur und Stadtverwaltung um den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, die Verstärkung der Tsunami-Schutzwälle und die Verbesserung des Frühwarnsystems.

Das löste nämlich nicht überall die richtige Reaktion der Bevölkerung aus. Fischmarkt-Chef Kunio Suno hatte seine Belegschaft zwar sofort nach dem Beben aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen. Doch manche hatten zunächst eine andere Sorge:

"Viele meiner Mitarbeiter wollten nach dem Erdbeben so schnell wie möglich nach Hause, um nachzusehen, ob ihre Häuser beschädigt worden waren. Es war viel Verkehr und sie dachten, die Küstenstraße wäre der beste Weg. Mit dem Tsunami haben sie nicht gerechnet. Deshalb sind viele meiner Leute dort umgekommen."

Die beste Frühwarnung hilft nichts, wenn sie von der betroffenen Bevölkerung ignoriert wird. Diese Gefahr wird umso größer, je öfter die Menschen Warnungen vor einer Gefahr erleben, die dann tatsächlich gar nicht eintritt. In Ishinomaki war das erst kurz zuvor der Fall gewesen.

Kennichi Horiuchi von der Stadtverwaltung: "Deshalb haben die Leute diesmal die Warnung nicht mehr ganz so ernst genommen – und die falschen Entscheidungen getroffen."
Allerdings nicht alle. Ausgerechnet in den ungeschützten kleinen Fischerdörfern, die zum Stadtgebiet zählen, waren auffällig wenige Menschen gestorben.

"Dort leben vor allem alte Leute. Und die hatten schon den großen chilenischen Tsunami vor 50 Jahren miterlebt. Sie wussten noch aus eigener Erfahrung wie gefährlich ein Tsunami werden kann. Also sind sie so schnell wie möglich weggelaufen. Die Leute, die auf der Halbinsel leben, wussten einfach besser Bescheid. Bildung ist der entscheidende Faktor für das Funktionieren eines Frühwarnsystems."

Und zur Bildung gehört auch das Wissen darum, dass Erdbeben nicht vorhergesagt werden können. Trotzdem ist in Ishinomaki die Überzeugung weit verbreitet, dass nun erst einmal Ruhe sein müsse. Der Unternehmer Nagato Kimura hat seine vom Tsunami zerstörte Fischkonservenfabrik mit staatlicher Unterstützung und Versicherungsleistungen wieder aufgebaut – an genau der gleichen Stelle wo sie vor zwei Jahren im Wasser versunken war.

"Der nächste Tsunami kommt erst in tausend Jahren, davon sind wir überzeugt. Unsere Generation hat den Preis gezahlt. Aber solch eine Katastrophe müssen wir bestimmt nicht noch einmal erleben."

In Ishinomaki sind 4.000 Einwohner durch den Tsunami ums Leben gekommen, weitere 10.000 haben die Stadt in den Wochen danach verlassen. Zusammen waren das fast zehn Prozent der Bevölkerung. Jeder, der hier wohnt, hat Nachbarn, Freunde oder Familienangehörige verloren. Hiroyuki Takeuchi ist Chefredakteur von Hibi Shimbun, der lokalen Tageszeitung. Er lobt die Effizienz der Behörden beim Wiederaufbau – und glaubt trotzdem nicht, dass Ishinomaki jemals wieder so sein wird wie zuvor.

"Am 11. März 2011 hatten wir den großen Schock durch das Erdbeben und den Tsunami. Aber jetzt überkommt uns der zweite Schock. Jetzt beginnt die Phase, in der wir das ganze Problem erst wirklich erkennen. Es fehlt Wohnraum, es fehlen Arbeitsplätze. Wir haben finanzielle Hilfen von der Regierung bekommen. Und damit konnten einige Leute ihr Leben wieder herstellen. Aber andere haben resigniert. Was mir Angst macht ist, dass diese Leute ganz und gar aufgegeben haben könnten. Das ist jetzt unsere größte Sorge."
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