Vom ausgezeichneten Atomphysiker zum fundamentalen Kritiker

Von Matthias Bertsch · 22.01.2010
Als der sowjetische Bürgerrechtler Andrej Sacharow nach Gorki verbannt wurde, war dieses der Höhepunkt eines langen Konfliktes. Der Kernphysiker war in Ungnade gefallen, als er auf die Folgen der Atomwaffentests hingewiesen hatte. Als er sich auch für Bürgerrechte engagierte, beschloss das Politbüro, Sacharow aus dem Verkehr zu ziehen.
"Der Andrej Sacharow gehört zu den großartigsten Menschen unserer Gegenwart. Dieses brutale Vorgehen gegen ihn und seine Familie, also ein Akt der Deportation, ist da ein schwerer Schlag gegen die Vereinbarung von Helsinki, gegen die Prinzipien der Bürgerrechte, und er vergrößert natürlich den Zweifel erheblich, ob man unter diesen Bedingungen daran festhalten kann, die Olympischen Spiele in Moskau durchzuführen."

Als sich der damalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Gerhard Stoltenberg, im Januar 1980 über die Verbannung Andrej Sacharows äußerte, hatte dieser bereits einen langen Weg hinter sich: Aus dem mit dem Stalin- und Leninpreis ausgezeichneten Atomphysiker war ein fundamentaler Kritiker der Sowjetunion geworden. Geboren am 21. Mai 1921 in Moskau war Sacharow maßgeblich an der Entwicklung der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe beteiligt, die im August 1953 gezündet wurde.

Anfangs überwog seine Hoffnung, die Welt durch ein nukleares Gleichgewicht vor der Zerstörung zu bewahren, bald wurde die Einsicht immer stärker, dass bereits das Testen der Nuklearwaffen verheerende Folgen hatte. Doch seine mahnenden Worte an das Politbüro blieben ungehört, so der Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Wolfgang Eichwede.

"In dem Maße, in dem die Politik, das etablierte System, an dessen Lernfähigkeit er ursprünglich geglaubt hat, nicht auf ihn gehört hat, in dem Maße hat er sich auch radikalisiert. Er hat zunächst für einen besseren Sozialismus gekämpft, da war die sowjetische Führung nicht offen, dann hat er geglaubt, im Namen der Modernisierung müsst ihr das einfach machen, egal ob ihr das wollt, sie haben nicht auf ihn gehört, und schließlich ist er sozusagen von dem Appell für einen besseren Sozialismus zu einem Appell für eine Modernisierung zu der Forderung nach Menschenrechten gekommen. Das war ein in sich sehr konsequenter Weg."

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 ging Sacharow mit seinen Äußerungen immer häufiger in die Öffentlichkeit. Im Inland machte ihn sein Einsatz für Demokratie und Menschenrechte zum Staatsfeind, im Ausland erhielt er dafür 1975 den Friedensnobelpreis, den seine Frau Jelena Bonner entgegennahm. Er selbst durfte nicht nach Oslo reisen. Als Sacharow schließlich gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan protestierte, war für das Maß voll. Am 22. Januar 1980 schlug das Politbüro zu.

"Sacharow zu verhaften, hat man nicht gewagt, also hat man ihn verbannt, und man hat ihn in eine geschlossene Stadt verbannt. Gorki, das heutige Nischni Nowgorod, war eine geschlossene Stadt, weil dort viel Rüstungsindustrie war. Da konnte er nicht von westlichen Journalisten besucht werden, war er sozusagen abgeschirmt. Man hoffte damit, das Problem Sacharow gewissermaßen im Stillen zu lösen."

"Ich kann das vergleichen mit psychische Foltern, weil: Obwohl - es ist formell keine Zelle, es ist ohne Gitter, ja, er kann nicht andere Menschen treffen ","

… beschreibt die russische Schriftstellerin Raissa Orlowa den Alltag Sacharows in Gorki. Sieben Jahre lang ist Jelena Bonner, die ihrem Mann freiwillig in die Verbannung gefolgt ist und regelmäßig nach Moskau fährt, die einzige Verbindung mit der Außenwelt. Erst nach Einsetzen der Perestroika kommt es im Dezember 1986 zu einer überraschenden Wende.

""Am 15. Dezember hat man mir in der Nacht ganz unerwartet ein Telefon installiert. Am 16. Dezember um drei Uhr nachmittags hat Michail Sergejewitsch Gorbatschow angerufen und gesagt, dass der Beschluss gefasst worden ist über meine Befreiung, dass ich nach Moskau zurückkehren kann. Und ich habe ihm gesagt, dass ich dankbar bin für diese Entscheidung."

Gesundheitlich angeschlagen engagiert sich Sacharow nach seiner Rückkehr erneut für die Demokratisierung seines Landes. Als Abgeordneter im Kongress der Volksdeputierten kämpft er dafür, dass der Führungsanspruch der Kommunistischen Partei aus der Verfassung gestrichen wird. Am 14. Dezember 1989 stirbt Andrej Sacharow an einem Herzinfarkt, den Untergang der Sowjetunion hat er nicht mehr erlebt. Im heutigen Leben Russlands spielt der Streiter für Bürger- und Menschenrechte kaum eine Rolle. Und doch, so Wolfgang Eichwede, bleibt sein Einsatz gegen das allmächtig scheinende Politbüro von bleibender Bedeutung.

"Sacharow ist von Dutzenden von Leuten Tag und Nacht beobachtet worden, das muss man sich mal vergegenwärtigen. Es ist doch in der Verfolgung von Sacharow noch mal deutlich geworden, wie gefährlich ein freies Wort sein kann."