Voll im Blues

Rolf Tischer im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 02.06.2012
Der Berliner Pfarrer und Musiker Rolf Tischer ist einer der Pioniere, der die US-amerikanische Gospelmusik in deutschen Kirchen etabliert hat. Durch den geistlichen Jazz könne man Menschen in den Gottesdienst bringen, "die sonst nicht mehr kommen", meint er.
Kirsten Dietrich: An diesem Wochenende treffen sich engagierte Gospelsänger in Dortmund zum 6. Gospelkirchentag – eine Erfolgsgeschichte, sagen die Veranstalter. Sie rechnen mit 70.000 Besuchern. 130 Chöre haben sich angemeldet, 6000 Sängerinnen und Sänger werden morgen Nachmittag als ein gigantischer Chor beim Abschlussgottesdienst singen. Was Gospelmusik für Kirchengemeinden so anziehend macht, darüber habe ich vor der Sendung mit Rolf Tischer gesprochen. Er ist Pfarrer in Berlin, passionierter Musiker und war einer der Pioniere, die Ende der 90er-Jahre die systematische Beschäftigung mit Gospelmusik in die evangelischen Kirchen getragen haben.

Gospel in der Kirche – da drängen sich zwei widersprüchliche Eindrücke auf: Zum einen ist da die große Begeisterung bei allen Beteiligten, ein "Endlich mal was anderes!", und auf der anderen Seite steht dann da oft ein Kirchenchor, schaut steif in die Notenblätter, in die jedes Klatschen und jede Blue Note eingetragen sind – also eigentlich das Gegenteil von Begeisterung. Wie passt das zusammen? Das wollte ich von Rolf Tischer wissen.

Rolf Tischer: Wir haben natürlich in der evangelischen Kirche in Europa eine Tradition der Körperzähmung. Man hat die Kirchenbänke, man hat eine frontale Ausrichtung, man muss stillsitzen, man muss brav sein, Gefühle sind nicht erwünscht in dem Sinne, es ist streng, es ist verkopft in gewisser Weise, es ist viel Text. Der Körper hört eigentlich am Halsbereich ungefähr auf. Man soll zuhören, man soll sich belehren lassen, man soll bekennen. Auch das Singen geht eigentlich nur bis zur Höhe des Brustbeins, sage ich mal, und alles andere ist eigentlich verpönt aufgrund der europäischen Kulturgeschichte, die eine Geschichte ist auch der Aufklärung, aber natürlich vor allem der Kirche ist mit ihrer natürlich Sexualängstlichkeit, sage ich mal.

Und das war … Was Gospel ist, also was letztendlich afrikanische Wurzeln hat, das bedeutet Körperbewegung, das bedeutet, ja, Ekstase auch, Klatschen. Das sind erst mal zwei völlig kulturell diametrale Welten. Und deswegen wahrscheinlich auch Ihre Fragestellung, kann das überhaupt zusammengehen? Weil man spürt irgendwie, da stoßen zwei ganz verschiedene Kulturen aufeinander. Jetzt ist aber Folgendes passiert: dass wir den Zweiten Weltkrieg hatten und danach die Popkultur mit Rock’n’Roll und allem kam, und der Normalbürger und -bürgerin in diesem Land längst gewohnt ist, auf Partys, auf Straßenfesten sich zu bewegen, zu klatschen. Da ist eigentlich diese alte "Wir müssen brav sein und still sitzen"-Haltung, die gibt es nicht mehr, und infolge dessen dann halt Menschen auf die Idee kommen und sagen, ja, und warum müssen wir eigentlich in der Kirche still sitzen? Wer hat denn das gesagt, und warum soll das gut sein?

Also im Grunde ist Gospel eigentlich auch eine Anfrage an alle, die Gottesdienst machen und Kirche sozusagen professionell verantworten: Ja, was tun wir eigentlich für die Menschen, die diese Bedürfnisse haben, und wie können sie ihren Glauben ausdrücken?

Dietrich: Bleiben diese Menschen dann auch in der Kirche, oder erreicht man dann bestenfalls, dass sozusagen durch den Einsatz von Gospel die Menschen, die sowieso kommen, neu motiviert oder neu begeistert werden?

Tischer: Na ja, sie kommen dann, wenn ihr Chor singt oder sie gehen in so einen Chor, sie kommen, wenn ähnliche Veranstaltungen stattfinden. Das muss man dann gucken, wie man diese Menschen auch binden kann an die bestehende Gemeinde. Aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die dann am nächsten Sonntag kommen und gerne die Bachchoräle oder das Gesangbuch rauf und runter, das alte Gesangbuch singen. Man muss schon dann in der Gemeinde überhaupt eine Öffnung machen in Richtung Familiengottesdienst, in Richtung Zielgruppengottesdienste. Diese Menschen haben ja dann Familie, Kinder vielleicht, und wenn da ein Familiengottesdienst ist, wo auch neue geistliche Lieder gesungen werden oder weiß ich was, offenere Formen sind, dann werden die auch wiederkommen, wenn sie denken, das ist aber eine nette Gemeinde, oh, da finde ich vielleicht doch einen Platz.

Dietrich: Das heißt, das niedrigschwellige Zaubermittel, um für neues Gemeindewachstum zu sorgen, ist Gospelmusik nicht?

Tischer: Zaubermittel so und so nicht, weil das nur eine begrenzte, auch wiederum einen begrenzten Ausschnitt von Menschen erreicht. Und Gemeindewachstum finde ich so und so, na ja, das ist nicht meine Welt, in dieser Begrifflichkeit zu denken. Also es erreicht in dem Moment, wo Menschen das singen und das hören und einschwingen, ist in dem Moment Glaubensenergie da, ist heiliger Geist da, wenn es nicht um Show geht, nicht um Konzert und nicht um die Charts oder so was. Dann ist in dem Moment Kirche, dann ist in dem Moment Gemeinde und in dem Moment wächst sie. Das ist sehr statisch gedacht – Gemeindewachstum, und jetzt haben wir noch mehr und weiß ich was.

Auf alle Fälle erreicht Gemeinde und Kirche auf einmal Menschen aus Milieus, die sonst nicht mehr kommen, und das ist doch schon mal was, und wenn es nur punktuell ist. Ich finde, dass Gospel was Tolles ist, weil es generations- und milieuübergreifende Musik ist. Das heißt, es verbindet verschiedene Altersstufen, und es verbindet auch verschiedene Milieus, und das ist eigentlich … Wir schmoren ja sehr im eigenen Saft in der Kirche. Wir haben entweder ein hochkulturelles Milieu, oder so ein eher kleinbürgerliches, binnenkirchliches Milieu. Und darüber hinaus erreichen wir die Menschen nicht mehr. Das sagen alle Studien. Und Gospel ist eine Chance. Man erreicht auch nicht alle, von der Sinus-Studie, weiß nicht, zehn oder zwölf Milieus, aber man erreicht drei oder vier Milieus. Es freut die einen und die anderen und ein drittes und viertes Milieu auch noch. Und das heißt: Wir werden überhaupt bemerkt, weil man sagt, das ist ein Ausdruck von Kirchenmusik, die uns gefällt, also die uns überhaupt entspricht.

Dietrich: Auch vielleicht eine Kirchenmusik, die eben mit dem Aspekt der Emotionalität, mit dem wenig Verkopften auch einer Kirche generell entspricht, die weggeht vom sehr Intellektuellen, vielleicht vom Politischen auch, hin dazu, den oder die Einzelne ganz in ihrer Spiritualität, in ihrer, in seiner Emotionalität abzuholen?

Tischer: Auf alle Fälle hat es damit zu tun, dass da ein ganz deutliches Defizit in der Kirche markiert wird, was offensichtlich dann da ein Stück befriedigt wird. Also dass Gefühle eine Rolle spielen, dass einfache Gedanken eine Rolle spielen dürfen, einfache Glaubensüberzeugungen, die wir sonst mehr so in der Freikirche finden, "Jesus, I love you" und so weiter, Lobpreislieder – es ist hier dann meistens in Englisch verpackt, dann geht es auch leichter über die Lippen, was witzig ist, ist ein Paradox, finde ich. Aber trotzdem sind es einfache, hingebungsvolle Glaubensaussagen meistens in diesen Liedern. Und es ist überhaupt die Haltung der Hingabe, die sonst bei uns so im Gottesdienst kaum vorkommt, weil wir ja diesen vielen Text dieser Kirchenlieder auf eine sehr alte Melodie meistens anpassen oder produzieren müssen, also Richtigkeiten singen, die oft auch schwer verständlich noch sind, sind es da eben sehr einfache Dinge.

Dietrich: Die Gründe für die Verwendung von Gospel im Gottesdienst, das leuchtet mir sehr ein, wenn man sagt, Gospel als Tür auch für Emotionalität, für ganz andere, neue Bedürfnisse, die anders nicht mehr abgedeckt werden. Aber wird man damit eigentlich der Tradition gerecht, die man sich da aneignet? Der Gospel kommt ja aus einem ganz anderen Umfeld, aus einem ganz anderen Erfahrungshorizont. Da geht es um Unterdrückungserfahrungen von schwarzen Sklaven, und nun nimmt man das Ganze, um emotionale Defizite von weißen Mittelstandsgemeinden auszugleichen, wenn ich es mal ganz überspitzt formuliere.

Tischer: Also das, was Sie sagen, das hat aus … trifft auf alle Fälle auf die Spirituals zu, die diesen Hintergrund haben natürlich der Leiderfahrung, der Unterdrückung, der Versklavung, der Entkulturierung oder wie man das auch nennt, also das Wegnehmen ihrer eigenen genuinen Kultur, den Schwarzen, und daraus machen wir was Lustiges und lassen es uns gutgehen. Und das ist sicher eine berechtigte Anfrage. Und gerade, wenn man Spirituals singt, sollte man sich das gut überlegen und auch die Texte gut anschauen, die man da singt, und vielleicht müsste dann der Pfarrer oder wer auch moderiert probieren, heutige Situationen in Deutschland, in der Welt zu benennen, von Syrien bis Afghanistan bis sonst wo, wo Unrecht geschieht, wo Unterdrückung geschieht. Man könnte das natürlich sofort in einer Predigt aufgreifen, und wenn der Pfarrer klug ist, tut er es auch. Und dann lernen wiederum die Gospelchöre, -sängerinnen und -sänger auch etwas, wie das aktualisiert wäre.

Das andere ist: Der Gospel des 20. Jahrhunderts, das waren nicht mehr Sklaven, das waren Afroamerikaner in den Großstädten, die sagten, hey, wir machen jetzt so unsere Musik und ziehen die in unsere Gottesdienste. Wir haben keine Lust mehr, in ähnliche parallele Situationen, wir haben keine Lust mehr, die altehrwürdigen Choräle zu singen. Wir machen was Neues, wir machen unsere Musik in unserer Kirche, unsere moderne Jazzmusik.

Dietrich: Dass Gospel in deutschen christlichen Gemeinden so gut funktioniert – ist das eher ein Zeichen für eine besorgniserregende Verflachung oder ist das ein hoffnungsvolles Zeichen?

Tischer: Gospel hat ja was von Volkslied. Gospel ist volkstümlich, es ist eigentlich Musikantenstadl auf Kirche. Es hat was von Schlager. Es ist eine relativ einfache Musik mit relativ einfachen Aussagen, wo man relativ schnell mitmachen kann. Ja, das hat sein Recht, das ist ein, sozusagen eine Schicht, eine Lage, auch in jedem Menschen. So wie wir hoffentlich alle noch Kinder sind und unsere Kindheit nicht vergessen haben, so ist so was Simples, sich Wiederholendes eine Schicht im Menschen. Und wenn es die einzige wäre, wäre es traurig.

Dann muss ich noch sagen, Gospel ist ja rhythmisch hochkomplex, also wenn er gut gemacht ist, die Band gut ist. Und das ist was, was überhaupt keine Verflachung ist. Da denke ich, da … wenn da Menschen sich drauf einlassen, im Gegenteil, da lernen sie was, da lernen sie ihren Körper kennen, da lernen sie die Komplexität von Musik zu hören, die sie vielleicht bisher gar nicht gehört haben. Also es gibt auch eine Menge noch zu lernen, auch sich auszudrücken, einfach sich zu vergessen, einfach nur da sein, einfach nur in dem Moment ergriffen zu sein, fröhlich zu sein, ja, in eine Richtung, sage ich mal, Ekstase zu gehen. Ich glaube, dass das vielen Menschen guttut – also Gott loben und preisen mit jeder Zelle.

Dietrich: Gospelmusik – Wundermittel für die müde Gemeindearbeit? Ich sprach mit Rolf Tischer, Pfarrer, Musiker und lange Jahre Beauftragter für Popularmusik in der Berlin-Brandenburgischen Kirche. Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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