Volksentscheide keine Alternative zu parlamentarischer Demokratie

17.07.2010
Der Historiker Heinrich August Winkler hat davor gewarnt, in Volksentscheiden eine Alternative zur parlamentarischen Demokratie zu sehen. "Ein Parlament kann zur Rechenschaft gezogen werden, wenn seine Entscheidungen auf längere Sicht dem Volkswillen der Mehrheit widersprechen. Aber ein Volk kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn es eine Entscheidung von fatalen Konsequenzen trifft", sagte Winkler.
"Ich finde, dass die alte Warnung von Theodor Heuss vor dem Plebiszit als Prämie für Demagogen auf Bundesebene immer noch gilt", so der emeritierte Professor für Neueste Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Dass der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bundesweite Volksentscheide fordert, ist für Winkler ein "Nachgeben gegenüber einer populistischen Versuchung".

Beim Plebiszit gehe es immer nur um Ja oder Nein, erklärte der Historiker, während in der repräsentativen Demokratie jedes Gesetz im Plenum des Bundestags und in den Ausschüssen ausgiebig beraten werde und nie so aus den Beratungen hervorgehe, wie es hineingegangen sei.
"Wäre bei uns das Plebiszit auch in außenpolitischen Fragen zugelassen, und insbesondere in der Europapolitik, dann wäre die EU bald am Ende", warnte Winkler. Die Erfahrungen in Kalifornien zeigten zudem, dass durch Volksentscheide in Finanzfragen der finanzielle Ruin hergestellt werden könnte, so der Historiker.

Bei Volksentscheiden sei es gar nicht die Mehrheit, die entscheide: "Je häufiger Plebiszite stattfinden, desto geringer die Beteiligung, und am Ende würde bei 'erfolgreichen Plebisziten' in hoch sensiblen Fragen eine aktivistische Minderheit sich durchsetzen", befürchtet der Historiker. Diese Gefahr bestehe auch beim Volksentscheid über die Schulpolitik am Sonntag in Hamburg, sagte er. Allerdings seien die Folgen eines Volksentscheids generell auf Landesebene nicht so schwerwiegend wie auf Bundesebene und gelegentlich sogar sehr heilsam, so Winkler.

Bei vielen Befürwortern von mehr direkter Demokratie spürt der Historiker ein "sehr deutsches, abgrundtiefes Misstrauen gegenüber politischen Parteien". In diesem Zusammenhang wirkten auch noch "sehr alte deutsche vulgärdemokratische Stimmungen" und eine gewisse Distanz gegenüber all den Erfahrungen der angelsächsischen Demokratien, denen die deutsche Demokratie so viel verdanke, sagte Winkler.