Volker Demuth: "Fleisch"

Eine Kulturgeschichte des Körpers

Anatomiemodelle aus der Anatomischen Sammlung der Ludwig-Maximilians-Universität in München
Eine Kulturgeschichte des offenbaren, geöffneten Körpers ist das Ziel von Volker Demuth. © imago / Reinhard Kurzendörfer
Von Florian Werner · 22.11.2016
Brauchen wir eine Geisteswissenschaft vom Körper? In seinem Buch "Fleisch" zeigt Volker Demuth, was diese neue "Carneologie" von Menschenopfer bis Porno beinhalten könnte. Mit gekonnten Schnitten tranchiert der Essayist die Kunst-, Philosophie- und Literaturgeschichte.
Unser Verhältnis zum Fleisch ist ambivalent: Einerseits ist es allgegenwärtig, sei es in Filmen, in Kunst und Popkultur oder in der Bildpolitik des Terrorismus. Andererseits ist es unsichtbar, unsagbar, unterrepräsentiert: Fleisch ist das "Obskure des Körpers" und fällt durch die Maschen wissenschaftlicher Diskurse.
Der Philosoph Volker Demuth schlägt daher eine neue geisteswissenschaftliche Disziplin vor: die "Carneologie". Sie soll eine "Kulturgeschichte des offenbaren, geöffneten Körpers, seiner Segmentierung und Partialisierung, seiner Industrialisierung und Fetischisierung" sein.
Buchcover: "Fleisch" von Volker Demuth
Buchcover: "Fleisch" von Volker Demuth© Verlag Matthes & Seitz Berlin

Am Anfang steht die Theologie

Mit gekonnten Schnitten tranchiert der Autor die Kunst-, Philosophie- und Literaturgeschichte. Seine Studie beginnt mit einer "Theologie des Fleischs": mit der Ersetzung des Menschenopfers durch das Tieropfer im Judentum sowie mit der kühnen Behauptung des Johannes-Evangeliums, der göttliche Logos sei durch den Menschensohn "Fleisch" geworden. Es geht, nach einem beherzten Zeitsprung über das Mittelalter, in der frühen Neuzeit weiter: Anhand des Materialismus von La Mettrie, vor allem aber der Pornosophie des Marquis de Sade sowie der Philosophie Friedrich Nietzsches argumentiert Demuth, dass sich zu Beginn der Moderne eine "carneologische Wende" vollzogen habe, die das Fleisch als Quelle der Lust, des Machtwillens und der Arbeitskraft in den Mittelpunkt rückt. Der Körper mit seinen Regungen und Trieben werde fortan zur Triebfeder menschlichen Handelns erhoben.
Weitere wichtige Stationen sind der Erste Weltkrieg, in dem Millionen Soldatenkörper durch den "Fleischwolf" des Kriegs gedreht wurden, sowie die Lager der Nationalsozialisten, in denen die Opfer auf ihre reine Fleischlichkeit reduziert wurden. Nach diesen Gräueln sowie der Blut- und Bodenmetaphorik des "Dritten Reiches" meint Demuth eine "Neutralisierung" des Fleischbegriffs ausmachen zu können, die eine "carneologische Renaissance" unter neuen, lustvollen Vorzeichen erlaubt. Die moderne Pornografie reinige das Fleisch vom Makel der Minderwertigkeit und Obsoleszenz; indem es seine Erregungs- und Verlockungsfähigkeit in den Mittelpunkt rückt, verdrängt es die zuvor herrschenden Diskurse der Moralisierung und Militarisierung.

Von Porno bis zur "Deinkarnation"

Ob Porno, Bodybuilding oder Körpermodifizierung oder Splatterfilm - kein Thema ist so anrüchig, dass der Autor nicht unvoreingenommen darüber schreiben würde. Das Finale des Buches fügt sich nahtlos in den narrativen Bogen, mutet aber etwas weithergeholt an. Am Anfang stand die Fleischwerdung des Wortes, am Ende die "Deinkarnation": Der Körper, so Demuth, könne in einem "postfleischlichen" Zeitalter überflüssig werden - was bleibt, ist der von seiner faserigen Hülle befreite Geist. Solche posthumanistischen Fantasien dürften vor allem den Geschmack kalifornischer Dotcom-Millionäre treffen. Wir Normalfleischlichen müssen weiterhin in trotziger Affirmation unserer Endlichkeit mit dem Maler Francis Bacon ausrufen: "We are meat! Cheerio!"

Volker Demuth: Fleisch. Versuch einer Carneologie
Matthes & Seitz Berlin 2016
330 Seiten, 25 Euro

Mehr zum Thema