Völkermord-Debatte

Historische Chance verpasst

Gedenkstätte an den Völkermord an den Armeniern in Jerewan, Hauptstadt von Armenien
Gedenkstätte an den Völkermord an den Armeniern in Jerewan © picture alliance / dpa / Foto: Abaca 106804
Von Kemal Hür · 24.04.2015
Bundespräsident Gauck sprach vom armenischen Völkermord, und auch in der Bundestagsdebatte fanden die Redner aller Fraktionen klare Worte. Genau das hat die Bundesregierung nicht getan und damit eine historische Chance verpasst, kommentiert Kemal Hür. Die Partnerschaft mit einem despotischen Präsidenten ist ihr offenbar wichtiger als die Anerkennung eines Genozids.
Ein Wort wollten die Armenier hören, das Wort Völkermord. Und sie hörten es gestern zunächst aus dem Mund des Bundespräsidenten Joachim Gauck im Berliner Dom. Auf der ökumenischen Gedenkfeier für die Opfer des Genozids im Osmanischen Reich sprach der Bundespräsident vom armenischen Völkermord. Diese Anerkennung fordern die Armenier, damit sie endlich mit der Trauerarbeit beginnen können - nach einem Jahrhundert. Denn bislang fühlten sie sich in der Beweisbringschuld.
Im Anschluss an die Gedenkfeier sprach noch ein Mann das lang ersehnte Wort aus und rührte die Nachkommen der Genozidopfer zu Tränen: Grünen-Chef Cem Özdemir. Er sprach beim Lichterzug am Brandenburger Tor gestern Abend zu Hunderten dort versammelten Menschen und forderte die Bundesregierung auf, nach hundert Jahren Mitwisserschaft den Genozid anzuerkennen, um die Versöhnung zwischen den Armeniern und Türken zu fördern. Alte Frauen und Männer umarmten unter Tränen Cem Özdemir und bedankten sich. Junge Armenier machten Fotos mit ihm. Özdemir stand nach seiner Rede hinter der Bühne vor dem Brandenburger Tor und weinte.
In der Person und Biografie Cem Özdemirs liegt der Schlüssel, die Verantwortung der heutigen deutschen Regierung für den Völkermord an den Armeniern zu begreifen. Die falsche Rücksichtnahme Deutschlands auf den Partner Türkei brachte Özdemir in der Bundestagsdebatte heute Vormittag auf sehr beeindruckende Weise zum Ausdruck. Ein Teil seiner Familie wurde selbst im Kaukasus Opfer von Vertreibungen, ein anderer Teil gehörte in der Türkei dem Volk der Täter an. Heute ist Özdemir Vorsitzender einer deutschen Partei.
Redner fanden klare Worte
So wie Özdemir leben mehr als drei Millionen Türken, Kurden, Armenier, Tscherkessen, Aramäer und Griechen aus Anatolien in Deutschland - Nachkommen der Täter und der Opfer. Ohne eine Anerkennung des Völkermordes ist eine Versöhnung nicht möglich. So wie die Opfer brauchen auch die Täter diese Positionierung des Staates, um an ihrer Trauer, ihrer Schuld und Verantwortung - sowie gemeinsam an einer Versöhnung zu arbeiten. Dafür fanden die Redner aller Fraktionen in der Bundestagsdebatte sehr klare Worte. Sie sprachen nicht nur vom Völkermord, sondern einige entschuldigten sich auch für die deutsche Mitschuld.
Auf der Besuchertribüne verfolgten viele Armenier, Aramäer und Pontusgriechen die Debatte mit Erleichterung. Was sie aber von den einzelnen Abgeordneten hörten, das versagte ihnen die Bundesregierung. Denn im Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Vernichtung der Armenier nur indirekt als Völkermord bezeichnet. Die Folge einer unrühmlichen Diplomatie. So unrühmlich wie die Rolle der deutschen Regierung vor 100 Jahren. Das Kaiserreich hätte den Völkermord verhindern können. Aber ihm war die Bündnispartnerschaft mit dem Osmanischen Reich wichtiger als die Vernichtung der Armenier.
Heute ist der deutschen Regierung offenbar die Partnerschaft mit einem despotischen Präsidenten Erdogan wichtiger als die Anerkennung und Verurteilung eines Genozids. Die deutsche Regierung hat eine historische Chance verpasst.
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