Völkermord an den Armeniern

"Man hätte massiv Einspruch erheben müssen"

Massengrab mit den Leichen getöteter Armenier. Rund 1,5 Millionen Armenier sind in den Jahren 1915 und 1916 bei den Massenmorden und Deportationen durch die Türken ums Leben gekommen. Als Folge flüchteten die Armenier aus dem türkischen Teil Armeniens in den russischen Teil sowie in andere Länder.
Massengrab mit den Leichen getöteter Armenier. Rund 1,5 Millionen Armenier sind in den Jahren 1915 und 1916 durch Massenmorde und Deportationen ums Leben gekommen. © picture alliance / dpa / Foto: epa CRDA
Jürgen Gottschlich im Gespräch mit Ute Welty · 04.04.2015
Deutschland war in den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren involviert, sagt der Autor Jürgen Gottschlich. Berlin habe sogar Sanktionsvorschläge gegen die Türkei zurückgewiesen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld sei längst überfällig.
Der Autor Jürgen Gottschlich fordert die Bundesregierung auf, sich mit einer deutschen Mitschuld am Völkermord an den Armeniern auseinanderzusetzen.
"Erst mal hätte man massiv Einspruch erheben müssen, schon das hat man nicht gemacht," sagte Gottschlich im Deutschlandradio Kultur über die deutsche Verstrickung in den Völkermord an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich. Das Deutsche Kaiserreich als engster Kriegsverbündeter der Türken im Osmanischen Reich habe bereits Anteil an der Identifizierung der Armenier als "Gefahr" gehabt und sei voll im Bilde über die Vernichtung der Armenier gewesen.
Spätestens als die Deutschen merkten, "dass die türkische Regierung nicht nur eine Deportation von A nach B durchführen wollte, sondern tatsächlich - wie der deutsche Botschafter auch geschrieben hat 'die armenische Rasse im Osmanischen Reich ausrotten will` - spätestens da hätten sie dann aktiv werden müssen und da fängt die Beihilfe zum Völkermord an", fasste Gottschlich die Hauptthese seines Buches zusammen, das im Februar unter dem Titel "Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier" erschienen ist. Die deutsche Regierung habe sogar explizit den damaligen neuen deutschen Botschafter in der Türkei massiv zurechtgewiesen, als dieser vorschlug, mittels Sanktionen, etwa einem Stopp militärischen Nachschubs, auf die Türken einzuwirken.
Deutschland verzichtet auf den Begriff Völkermord
Dass die Bundesregierung in der Resolution von 2005 lediglich von einer "unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches" sprach und den Begriff Völkermord weiterhin nicht verwenden will, erklärte Gottschlicht zunächst mit Rücksichtnahme auf die politischen Beziehungen zur Türkei. Es gehe darum "keinen Konflikt mit der türkischen Regierung zu provozieren." Zu weiteren Gründen sagte Gottschlich: "Es spielt sicher eine große Rolle, dass in Deutschland im Rückblick, wenn man Völkermord sagt, erst einmal alle an den Holocaust denken. Und es gibt sicher dann auch eine psychologische Barriere, sich dann noch einmal 30 Jahre weiter nach hinten zu bewegen und feststellen zu müssen, Deutschland war, mittelbar und unmittelbar, schon einmal in einen Völkermord involviert."
Gesamte deutsche Spitze "glänzt durch Abwesenheit" bei der 100-Jahr-Gedenkfeier in Jerewan
Zudem sei die armenische Gemeinde in Deutschland zu klein, um Druck auf die Regierung auszuüben, endlich Stellung zu beziehen: Dies zeige sich auch dran, dass die "die gesamte deutsche Spitze" bei der 100-Jahr-Gedenkfeier am 24. April 2015 in der armenischen Hauptstadt Jerewan durch "Abwesenheit glänzen wird", kritisierte Gottschlich. "Weil sie weder selber ein eigenes Schuldbekenntnis ablegen wollen, noch sich mit der türkischen Regierung anlegen wollen", meinte er. Deutschland sei zu Recht stolz darauf, eine Erinnerungskultur entwickelt zu haben was den Holocaust angehe. "Aber ich finde, um glaubwürdig zu sein, darf man dann auch nicht dabei stehen bleiben. Man muss auch bereit sein, sich mit dem Völkermord an den Armeniern auseinandersetzen", forderte Gottschlich.
Seit 2005 offenere Diskussion in der türkischen Gesellschaft
In der öffentlichen Diskussion in der Türkei über das Thema habe es 2005 eine echte Zäsur gegeben, berichtete der langjährige Türkei-Korrespondent der Tageszeitung taz: "Bis dahin war der Begriff Völkermord völlig tabuisiert, wurde sogar strafrechtlich verfolgt." Dies habe sich unter anderem durch große Universitätskongresse geändert und vor allem habe der Mord an dem bekanntesten armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 in Istanbul, der auf offener Straße von einem türkischen Nationalisten erschossen wurde, als Katalysator gewirkt: "Es gab eine unglaubliche Empörung darüber. Und seitdem wird mehr und offener darüber geredet in der türkischen Gesellschaft."
Die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich in den Jahren 1915/16 werden von zahlreichen Ländern, darunter Frankreich, der Schweiz, dem Europaparlament und weiteren internationalen Organisationen als Genozid nach der entsprechenden UN-Konvention aus dem Jahr 1948 eingestuft.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Sänger Charles Aznavour ist Armenier, Soap-Star Kim Kardashian oder auch Rennfahrer Alain Prost. Was heute längst kein Makel mehr ist, bedeutete vor einhundert Jahren Lebensgefahren. Im Frühjahr 1915 beginnt mit einer Razzia der Völkermord an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich. Dass es ein Genozid war, darüber sind sich die Historiker heute weitgehend einig. Allein die türkische Regierung weigert sich, die Dinge beim Namen zu nennen, und auch Deutschland tut sich schwer. Der Journalist und Publizist Jürgen Gottschlich wirft Deutschland sogar Beihilfe zum Völkermord vor, so jedenfalls der Titel seines neuen Buches. Und Jürgen Gottschlich diskutiert diese deutsche Verantwortung auch heute Abend in Berlin im Gorki-Theater. Zuvor aber ist er zu Gast in "Studio 9", guten Morgen!
Jürgen Gottschlich: Guten Morgen!
Welty: 1,5 Millionen Armenier haben während der Massaker ihr Leben verloren, das jedenfalls schätzen armenische Quellen. Tatsache ist, dass sehr, sehr viele Menschen umgebracht worden sind. Inwieweit hat sich Deutschland schuldig gemacht?
Gottschlich: Nun ja, Deutschland war zu dem Zeitpunkt der engste Verbündete des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg – also sie waren nicht nur verbündet, sie waren sozusagen so was wie der große Bruder –, und sie haben dazu beigetragen, also ganz massiv, dass das Osmanische Reich überhaupt an ihrer Seite in den Ersten Weltkrieg eingetreten ist. Und damit wurden die Rahmenbedingungen geschaffen, dass dieser Völkermord stattfinden konnte – in der Form, wie er stattgefunden hat.
Welty: Sie sagen, es wurden die Rahmenbedingungen geschaffen, ist es also vor allem oder konstatieren Sie hier vor allem eine moralische Schuld oder eine tatsächliche?
"Alle haben die Armenier als Gefahr identifiziert"
Gottschlich: Ja, also es geht schon weiter, meiner Meinung nach. Man muss sich angucken, wie es dann weiterging. Es ging zunächst darum, die Armenier als Gefahr zu identifizieren, also sowohl die damalige türkische Regierung als auch nahezu alle deutschen Verantwortlichen, die damals da waren – und Deutschland hatte sehr viele hochrangige Verantwortliche damals in Konstantinopel, also vor allen Dingen im Militär. In der Militärführung waren hohe deutsche Offiziere direkt beteiligt, alle haben die Armenier als Gefahr identifiziert, weil sie angeblich kollektiv einen Aufstand machen wollten, um mit den Russen zu kollaborieren, also dem damaligen Kriegsgegner. Die Folge davon war, dass man gesagt hat, die müssen deportiert werden aus zunächst im Osten entlang der russischen Front. In dem Punkt waren sich die Deutschen und die Türken völlig einig, also deutsche Offiziere haben auch vorgeschlagen, die Armenier müssen deportiert werden. Nun kann man sagen, okay, Deportation war damals eine Maßnahme, die nicht jetzt spezifisch für Deutsche oder Türken waren, ist im Ersten Weltkrieg auch von anderen Mächten angewandt worden. Deportation bedeutet ja eigentlich, eine Bevölkerungsgruppe in ein Gebiet weit weg von der Front zu bringen, aber nicht, diese Bevölkerungsgruppe gleich völlig zu eliminieren, zu ermorden. Als die Deutschen dann gemerkt haben, dass die türkische Führung nicht nur eine Deportation von A nach B durchführen wollte, sondern tatsächlich – wie der deutsche Botschafter damals auch geschrieben hat – die armenische Rasse im Osmanischen Reich ausrotten will, spätestens da, finde ich, hätten sie dann aktiv werden müssen. Und da fängt die Beihilfe zum Völkermord an, sie sind nicht aktiv geworden.
Welty: Welche Möglichkeiten hätte es denn gegeben, aktiv zu werden, dagegen Einspruch zu erheben?
Gottschlich: Erst mal hätte man mal massiv Einspruch erheben müssen, schon das hat man nicht gemacht, sondern der damalige deutsche Botschafter hat zwar zwei Protestnoten einreichen lassen, wo er aber gleichzeitig von vorneherein auch nach Berlin geschrieben hat: Ich hab das gemacht, nicht weil ich damit rechne, dass dann die türkische Führung das Verhalten ändert, sondern damit wir später in den Akten nachweisen können, wir haben ja protestiert. Als dann der Wechsel in der Botschaft war – der bisherige starb überraschend an einem Schlaganfall, kam ein neuer Botschafter, der tatsächlich unbelastet war, auch vorher in England Botschafter war, tatsächlich was unternehmen wollte, tatsächlich massiv, also auch mit Sanktionen drohen wollte, das heißt militärischen Nachschub, auf den die türkische Armee dringend angewiesen war, aus Deutschland stoppen, wurde von der Berliner Regierung ganz massiv zurechtgewiesen, wie könne ihm nur einfallen, so einen dummen Vorschlag zu machen.
Welty: Warum tut sich Deutschland und auch die jetzige deutsche Regierung so schwer, einen Prozess der Aufarbeitung anzuleiten? Diese Diskussion, die wir jetzt verfolgen, die fand ja ähnlich schon vor zehn Jahren zum 90. Jahrestag statt.
Gottschlich: Ja, das war das erste Mal, dass der Bundestag eine Resolution dazu verabschiedet hat damals. In dieser Resolution steht ja, wir bedauern die, Zitat "unrühmliche Rolle des damaligen deutschen Kaiserreiches". Das wird aber erstens nicht weiter ausgeführt, welche unrühmliche Rolle die Deutschen denn gespielt haben, und zweitens hat man, um keinen Konflikt mit der türkischen Regierung zu riskieren, darauf verzichtet, die ganze Sache wirklich beim Namen zu nennen. Also in der Resolution ist weder von Genozid die Rede noch von Völkermord.
"Selbstbezichtigungen finden nicht statt"
Welty: Hängt diese Sprachlosigkeit auch damit zusammen, dass man ja nur mühsam eine Sprache gefunden hat, einen anderen Völkermord zu beschreiben, nämlich den Völkermord an den Juden, und auch mit dieser Schuld zu leben und umzugehen?
Gottschlich: Das spielt sicher eine große Rolle, dass in Deutschland im Rückblick, wenn man Völkermord sagt, erst mal alle an den Holocaust denken. Und es gibt sicher auch eine psychologische Barriere, sich dann noch mal 30 Jahre weiter nach hinten zu bewegen und feststellen zu müssen, Deutschland war mittel- und unmittelbar schon mal in einen Völkermord involviert. Und zweitens, es gibt keinen großen ... also solche Selbstbezichtigungen finden ja nicht statt, ohne dass ein großer Druck existiert, und in Deutschland existiert kein großer Druck, weil in der deutschen Öffentlichkeit das wenig bekannt ist, wenig darüber geredet wird und die armenische Gemeinde in Deutschland so klein ist, dass sie nicht dazu in der Lage ist, einen genügend großen politischen Druck zu entwickeln, dass die Bundesregierung tatsächlich Stellung beziehen muss. Das sieht man schon daran, dass die gesamte deutsche Spitze bei den 100-Jahr-Feiern in Armenien in Jerewan jetzt am 24. April im Gegensatz zu Frankreich und USA durch Abwesenheit glänzen wird, weil sie nicht damit weder selber ein Schuldbekenntnis ablegen wollen noch sich mit der türkischen Führung anlegen wollen.
Welty: Schuld anerkennen ist ja das eine, aber welche Konsequenzen soll dieses Anerkennen haben, was erwarten Armenier von Deutschland?
Gottschlich: Aus armenischer Sicht ist es vor allen Dingen eine moralische Frage. Hinter den Kulissen wird oft darüber geredet, es könnte Restitutionsansprüche auslösen, das glaube ich nicht. Also es geht um eine moralische Frage und um seinen eigenen Umgang mit der Vergangenheit. Deutschland ist ja zu Recht stolz darauf, eine Erinnerungskultur entwickelt zu haben, was den Holocaust angeht, aber ich finde, um glaubwürdig zu sein, darf man dann auch nicht dabei stehen bleiben, sondern muss auch bereit sein, sich mit dem Völkermord an den Armeniern auseinanderzusetzen.
Welty: Und was erwarten die Armenier von der Türkei?
Die Armenier haben keine große Lobby
Gottschlich: Ja, da geht's schon oder könnte es gehen, da wird ja im Detail noch gar nicht darüber geredet, ähnlich wie Deutschland gegenüber Israel, dann Entschädigungsleistungen erbracht werden. Es geht um Ländereien, die den Armeniern gehört haben, und es geht vor allen Dingen aber darum, den kleinen armenischen Staat – das sind zwei Millionen Leute, die da in ziemlich großer Armut leben –, durch die Öffnung der Grenze, durch ökonomische Unterstützung überhaupt erst mal richtig lebensfähig zu machen.
Welty: Wenn Sie als Korrespondent für die "taz", der Sie ja sind, in der Türkei unterwegs sind, wie erleben Sie dann die öffentliche Diskussion über dieses Thema in der Türkei?
Gottschlich: Die öffentliche Diskussion hat sich seit 2005 – da gab's eine ähnliche, also nicht eine ähnliche, sondern da gab's eine echte Zäsur in der Türkei, da wurde, ab 2005 wird richtig öffentlich darüber diskutiert auch. Also bis dahin war der Begriff Völkermord völlig tabuisiert, wurde sogar strafrechtlich verfolgt. Das hat sich in 2005 durch verschiedene Ereignisse, unter anderem große Kongresse, die an den Universitäten stattfanden, geändert, und dann war ein wichtiger, großer Einschnitt der Mord an dem bekanntesten armenischen Journalisten Hrant Dink, das war im Januar 2007. Das hat wie ein Katalysator – es war eine unglaubliche Empörung darüber – hat wie ein Katalysator gewirkt, und seitdem wird eigentlich sukzessive mehr und offener darüber geredet in der Türkei, in der türkischen Gesellschaft.
Welty: Und vielleicht ändert sich ja 2015 noch mehr, auch in Deutschland. Der Journalist und Publizist Jürgen Gottschlich hat ein Buch geschrieben über den Völkermord an den Armeniern, und er diskutiert heute Abend darüber in Berlin im Gorki-Theater. Vorher sprach er mit uns in "Studio 9". Danke dafür!
Gottschlich: Ja, ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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