Vögel kennen keine Führer

Peter Berthold im Gespräch mit Dieter Kassel · 04.05.2009
Wenn Vögelschwärme vorüberziehen, sieht es so aus, als würde der voranfliegende Vogel den Schwarm führen. Doch in Wirklichkeit wechseln sich die Vögel in dieser Position ab, um Kräfte zu sparen, sagt der Ornithologe Peter Berthold. In der Mehrzahl seien die meisten Vögel ohnehin Individualisten und unternehmen die Reise ins Winterquartier alleine.
Dieter Kassel: Von heute bis zum kommenden Wochenende geht es in unserem Programm mehrmals täglich um das Verhalten der Vögel, und jetzt gleich zu Beginn geht es um das, was auch der Grund ist, warum diese Vogelschau nicht irgendwann im Jahr in unserem Programm stattfindet, sondern gerade jetzt Anfang Mai. Denn zu dieser Zeit können wir im Himmel über Deutschland große Vogelschwärme sehen, Vögel, die zurückkehren aus ihren Winterquartieren.

Manchmal wird da der Himmel über uns ganz grau oder schwarz vor lauter Vögeln. Das sind Hunderte, Tausende, manchmal Zehntausende. Und einer fliegt, je nach Formation, ja in der Regel vorneweg. Und deshalb glauben wir Menschen natürlich, das ist der Leitvogel, an dem orientieren sich all die anderen.

Was scheinbar logisch klingt, ist aus ornithologischer Sicht völliger Quatsch. Warum man solche Leitvögel gar nicht braucht und wie das mit den großen Flugformationen trotzdem funktioniert, darüber wollen wir jetzt mit Peter Berthold reden, einem der bekanntesten deutschen Ornithologen. Er hat bis ins Jahr 2005 die Vogelwarte Radolfzell geleitet, offiziell tut er das nicht mehr, aber er hat da immer noch ein Büro, und da begrüße ich ihn jetzt. Schönen guten Morgen, Herr Berthold!

Peter Berthold: Ja, guten Morgen!

Kassel: Es ist also tatsächlich so, dass Sachen wie die Leitgans Akka, die wir von Nils Holgersson kennen, oder auch erfahrene Störche aus anderen Märchen, die ihre Formationen sicher nach Afrika führen, die gibt es wirklich nur im Märchen?

Berthold: Ja, im Märchen und natürlich in der älteren Literatur, die an Führer weit mehr geglaubt hat, als wir das heute tun. Ich kann kurz vielleicht zitieren das sogenannte "Buch der Natur", das war der spätmittelalterliche Volksbrehm, geschrieben von Konrad von Megenberg bereits 1309 bis 1374. Der ging davon aus, dass wenn die Störche über das Meer fliegen, was man damals von Beobachtungen schon wusste, sie Führer haben mussten und das hat man den Störchen gar nicht zugetraut, sondern er schreibt, dass vorneweg Krähen flogen, die ihnen den Weg hinüber gezeigt haben. Also richtige Lotsen wie etwa kleine Lotsenschiffe im Hamburger Hafen.

Und später hat man gesehen, dass das alles gar nicht der Fall ist. Wenn Sie sich vorstellen, dass wir heute in Israel einen einzigen Storchenschwarm haben können, der aus 20.000 Individuen besteht und sich auf eine Länge von 30 Kilometern hinzieht, dann wird schon klar, da kann nicht vorne irgendein Führer sein, der bis hinten wirkt. Und wenn man dann sieht, wie sich diese Wolke umbaut, umändert, dann ein Teil vorne einfällt, die anderen weiterfliegen, dann ist innerhalb von Sekunden bis Minuten klar, das geht ohne Führer und funktioniert trotzdem.

Kassel: Nehmen wir doch zum Beispiel mal die Gänse, die sind uns ja noch näher, weil in noch größerer Stückzahl sichtbar in Deutschland, die in der Regel ja in so einer Art V-Formation fliegen. Da ist ja eine Gans vorne, und das ist trotzdem keine Leitgans?

Berthold: Ja, also wir haben bei den Gänsen differenzierte Verhältnisse. Es gibt bei den Gänsen tatsächlich eine kleine Formation, die einen Führervogel haben kann, das ist der Familienverband. Da fliegt in der Regel vorne Papa oder Mama und hinterher fliegen die drei, vier, fünf, sechs, sieben Jungvögel, da wird tatsächlich geführt, und bei Kranichen gibt es das auch noch.

Aber das V, was Sie schon angesprochen haben, oder W, wo dann 20, 30, 40 Gänse, da hört's mit der Führerei schon auf. Da fliegt einer vorneweg, und der tut das gar nicht mal unbedingt allzu gern und allzu freudig und allzu freiwillig. Schon der Staufenkaiser Friedrich II. hat sich solche Flugformationen angeschaut, etwa von Kranichen, und hat damals schon geschrieben, man sieht ganz deutlich, dass diese Vögel offensichtlich nicht von einem bestimmten Individuum geführt werden, denn nach bestimmten Zeiten lösen die sich auf, es gibt ein Riesengeschrei, man formiert sich neu. Und dann kommt irgendeiner, der hinten drin hing, der übernimmt dann die Führung.

Und heute wissen wir auch genau warum: Wer vorneweg fliegt, muss sehr viel mehr leisten, sehr viel mehr Flugarbeit vollbringen. Die anderen haben eine Kräfteersparnis von ungefähr 20 Prozent, und deswegen ist eigentlich der Drang, hinterherzufliegen, wie etwa beim Radausflug, wo Papa, Mama und die Kinder so geordnet fahren, dass der alte Herr vorneweg fährt und den Wind abfängt und die anderen im Windschatten fahren, genau dasselbe Problem haben wir bei diesen Vögeln.

Kassel: Wenn es wirklich keinen Leitvogel gibt, warum sehen denn diese Formationen, zumindest wenn man sie vom Boden aus betrachtet, immer so ordentlich aus? An sich müsste es doch ein riesiges Chaos geben?

Berthold: Gibt's auch gelegentlich, wenn neu geordnet wird. Aber nehmen wir mal so einen Starenschwarm, das ist eigentlich so das Eindruckvollste. Der sieht ja aus wie ein großes, überdimensionales persönliches Gebilde, obwohl da drin 5000, 10.000 Vögel untergebracht sein können. Für uns wirkt das wie eine Einheit, die auf einheitlichen Mechanismen funktioniert. Da ist die Geschichte ganz einfach folgende: Die Stare fliegen abends Schlafplätze an außerhalb der Brutzeit, die sind meistens im Schilf. Am Schilf lauern alle möglichen Greifvögel, die Stare fressen. Dorthin zu fliegen, ist gefährlich, sicherer ist es, im Verband zu fliegen, in einer dichten Wolke. Da kann ein Greifvogel gar nicht so leicht hineingreifen und sich was rausholen. Und dann tut man das noch mit großer Geschwindigkeit, und das ist für Stare kein Problem, die können so mit 50, 60, 70 Stundenkilometern alle miteinander fliegen, auch sehr dicht gepackt, können ganz schnell auf den Nachbarn reagieren, was wir übrigens ja beim Autorennen auch haben. Diese Rennfahrer fahren ja mit ganz kurzen Abständen hintereinander her. Wenn wir das als Laien machen würden, würde es ständig krachen. Aber wenn man die Fähigkeiten zum Manövrieren hat wie die Stare, dann geht das schon.

Und durch Filmaufnahmen wissen wir heute, und auch durch alle möglichen anderen Untersuchungen, dass im Grunde nur reagiert wird auf den Nachbarn und die nächsten fünf, sechs Vögel, die drumherum fliegen. Und die ganze Wolke richtet sich eigentlich nach dem vorderen Teil, was der macht. Da kann es auch mal eine Aufspaltung geben in verschiedene kleinere Schwärme, die sich wieder finden. Also das sind alles Dinge, die ad hoc stattfinden, ohne irgendwelche Vorabsprachen, ohne irgendwelche Führer, die nach hinten durchgeben, jetzt machen wir das, wir machen jenes, was gar nicht machbar wäre.

Kassel: Wir haben ja schon den einen oder anderen Mythos vernichtet jetzt, Herr Berthold. Lassen Sie uns mal auf noch so eine Volkssage fast schon kommen, dieses Gerücht, das es, glaube ich, auch schon seit Jahrhunderten gibt, dass die Störche auf ihrem Weg ins Winterquartier in der Türkei eine Pause machen, um dort mitreisende Vögel zu bestrafen, und zwar durch Mord, durch Hinrichtung. Ist da was dran, bringen die sich gegenseitig um bei der Pause?

Berthold: Ja, also das war natürlich auch ein Mythos, der dem spätmittelalterlichen katholischen Denken entsprach, und dort wohl sollten hingerichtet werden auf dieser Wanderung ins Winterquartier die Storchendamen, die in der Saison vorher Ehebruch begangen hatten. Und Konrad von Megenberg schreibt auch noch so schön, dass man das öfters gesehen hat. Also er hat das noch mal belegt, dass es auch tatsächlich stimmt.

Heute wissen wir, dass die Störche am Nest zwar umbringen können, aber aus ganz anderen Gründen, das passiert auch sehr viel früher, nämlich wenn die Störche ankommen und ihre Horste beziehen. Da kann es schon mal sein, dass ein Horst übernommen wird von irgendeinem anderen Storch als im Jahr vorher, und der etwas später zurückkehrende möchte gern seinen Horst wiederhaben und der kann dann unter Umständen sehr stark angreifen, der kann einen der schon anwesenden Partner töten, der kann die Eier aus dem Nest schmeißen, der kann unter Umständen sogar die Jungen aus dem Nest werfen, um auf diese Weise sich den Horst wieder zu sichern. Also das sind praktisch Revierkämpfe, Besitznahmekämpfe, die aber nichts zu tun haben mit ethischer Säuberung einer etwas verlotterten Storchenpopulation.

Kassel: Wie ist es eigentlich überhaupt mit Streit in solchen Formationen, wenn die diese langen Strecken fliegen, egal ob es Störche sind, Gänse, Stare oder irgendwelche anderen Vögel? Die haben ja im Prinzip einprogrammiert von Geburt an, welche Strecke sie fliegen müssen, aber ich nehme an, diese Strecken sind ja nicht auf den Zentimeter gleich. Gibt's da manchmal Streit, gibt's da Vögel, die lieber andersrum fliegen wollen als die anderen, trennen sich die Formationen da manchmal auf?

Berthold: Ja, also das gibt's ganz sicher, weil manche sozusagen - ich sag's mal ein bisschen salopp - mit der Sollrichtung, die der Schwarm im Mittel einhält, nicht einverstanden sind. Aber da wird nicht gestritten, sondern da wird separiert und eigene Wege gegangen. Gestritten wird in der Brutzeit um Weibchen, um Territorien und diese Dinge.

Der Zug verläuft im Grunde genommen überall ganz friedlich. Da sind ganz andere Sorgen, nämlich schnell vorankommen, gut durchkommen, ordentliche Rastplätze finden, Nahrung finden und so weiter. Also da wird nicht gestritten, im Gegenteil, wir haben auf dem Zug mal beispielsweise, was man auf jeder Ostseeschifffahrt beobachten kann, gemischte Schwärme, und da kann es sein, dass ein Sperber, der von Kleinvögeln lebt, also im Brutgebiet ständig Buchfinken, Sittiche, Meisen und so weiter schlägt und isst, dass der in solchen kleinen Vogelschwärmen mitfliegt, mitzieht und von den Kleinvögeln auch im Grunde genommen gar nicht beachtet wird, zumindest toleriert wird, weil die, in Anführungszeichen, "wissen": Unterwegs tut er uns gar nichts, und da können wir auch mit ihm zusammen wandern.

Kassel: Gibt es auch das Gegenteil, gibt es Individualisten, die auch über Tausende von Kilometern lieber ganz alleine fliegen?

Berthold: Ja, das ist sogar die Mehrzeit der Vögel. Wir müssen uns so vorstellen, dass ungefähr 70 bis 80 Prozent des gesamten Vogelzuges am nächtlichen Himmel stattfindet, und da ist Schwarmverhalten ohnehin nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und wenn man mal so einen Flugüberwachungsradar besucht und diese einzelnen Zuglinien von Vögeln sich anschaut, die gehen ungefähr so wie die Linien auf einem Schnittmuster in alle erdenklichen Richtungen, überschneiden sich und so weiter. Und damit wird schon klar: Wer da oben zieht, geht im Wesentlichen seine eigenen Wege und kümmert sich weder um Nachbarn, Artgenossen noch um sonst was.

Kassel: Leitvögel gibt es nicht, haben wir gelernt, aber das macht den geordneten Flug in Schwärmen eigentlich noch viel faszinierender. Herr Berthold, ich hätte Ihnen jetzt fast guten Flug gewünscht, aber ich nehme an, auch nach so langer Zeit Beschäftigung mit Vögeln können Sie das noch nicht ohne Hilfsmittel. Oder habe ich mich da getäuscht? Vermutlich nicht.

Berthold: Nein, da gibt's keine Möglichkeiten, also wir müssen nach wie vor irgendwelche Hilfsmittel nehmen, und das wird auch so bleiben, gar keine Frage. Also wir werden vieles erreichen, aber sicherlich nicht, dass wir mit eigener Kraft fliegen können. Die Flugfähigkeit bei Vögeln für längere Flüge endet so ungefähr in der Größenordnung von 20 Kilogramm, das sind also große Trappen in Südafrika oder die größten Schwäne, die wir haben, Trompeterschwan in Nordamerika. Und dann können Sie sich vorstellen, was mit unseren 70, 80, 90 Kilos passiert. Da müssten wir Flügel haben, die eigentlich gar nicht funktionsfähig wären. Also da werden wir uns weiter mit Hilfsmitteln begnügen müssen.