Visual Lead Awards

Mit Fotografien neue Erzählformen finden

Die Deichtorhallen präsentieren vom 27. August bis 30. Oktober 2016 alle Nominierten und Gewinner des Visual Lead Awards.
Die Deichtorhallen präsentieren vom 27. August bis 30. Oktober 2016 alle Nominierten und Gewinner des Visual Lead Awards. © Tamara Göbel
Von Anette Schneider · 26.08.2016
Auch in diesem Jahr werden in den Hamburger Deichtorhallen die Nominierten und Gewinner der Visual Lead Awards ausgestellt: Die besten Fotoreportagen, Anzeigen und Websites, die 2015 in Deutschland erschienen sind. Einige findet unsere Autorin herausragend.
Schon im Foyer geht es los. Ein langes Band von schwarz-weiß-Fotos zieht sich quer über die Wand: Bilder von Menschen auf der Flucht. Männer, Kinder, Frauen ziehen über staubige Feldwege. Oft zeigt der griechische Fotograf Nikos Pilos die erschöpften Menschen ganz nah. Möglich war das, weil er, so Lead Award-Organisator und Jurymitglied Markus Peichl:
"Eineinhalb Jahre lang Flüchtlingsströme, diese moderne Völkerwanderung begleitet hat. Ganz oft mit verschiedenen Flüchtlingen direkt von Syrien oder Pakistan oder Afghanistan bis nach Serbien, nach Montenegro mitgegangen ist, am Meer war, in den Aufnahmelagern war, und das auf eine Weise dokumentiert, dass man überhaupt erst begreift, welches Ausmaß diese Flüchtlingskatastrophe hat".
Die Deichtorhallen präsentieren vom 27. August bis 30. Oktober 2016 alle Nominierten und Gewinner des Visual Lead Awards. Hier eine nominierte Kindermodestrecke von von Achim Lippoth.
Nominiertes Kindermodefoto von Achim Lippoth.© Tamara Göbel
Die Ausstellung umfasst Architekturfotografie, Porträts, Werbekampagnen und einige Beispiele für besonders gelungenes Zeitungs-Layout. Und natürlich Fotoreportagen: Serien über Terroranschläge, über eine Gruppe perspektive-loser Jugendlicher, über verlassene Orte von New Mexiko bis Westprignitz oder den Rassenhass in den USA spiegeln den katastrophalen Zustand der Welt. Reportagen, die nicht nur in Magazinen erschienen, sondern auch in Tageszeitungen.
"Das ist eine sehr interessante Entwicklung: Die Zeitungen werden immer mehr das, was die Magazine früher waren. In der Gestaltung, in der Umsetzung, wie sie Hintergründe aufarbeiten, wie sie Stellung nehmen. Schlicht und einfach deswegen, weil die Online-Medien immer mehr zur Tageszeitung werden."

100 Juroren suchten nach den Besten

Auf der Suche nach "dem Besten" musste die über 100-köpfige Fachjury die gesamte Bilderflut des letzten Jahres durchforsten. Außerordentlich befremdlich wirkt dabei die Entscheidung für Ausgaben des "Stern" und der "Bild am Sonntag" zu den Anschlägen in Paris. "Bild" etwa präsentiert große Aufnahmen blutüberströmter Toter sowie panischer Menschen und dazu die fettgedruckte Frage "Müssen wir jetzt in den Krieg ziehen?". So befremdlich diese Auswahl ist, so befremdlich klingt die Begründung der Nominierung:
"Die Jury war einfach der Meinung, dass diese beiden Berichte die intensivsten waren, die waren, die das Geschehen trotz der Kürze der Zeit, die man hatte, am umfassendsten und am packendsten vermittelt haben."
Die Deichtorhallen präsentieren vom 27. August bis 30. Oktober 2016 alle Nominierten und Gewinner des Visual Lead Awards.
Bildstrecke mit nominierten Fotos.© Tamara Göbel
Dagegen überzeugen die oft eigenwilligen Reportagen, in denen Fotografen versuchen, für das, was uns umgibt, neue Erzählformen zu entwickeln: Gleich mehrere Serien thematisieren das Elend flüchtender Menschen – ohne diese zu zeigen! Eine umfasst ausschließlich Blicke in leere Klein-LKW’s. In Lieferwagen, mit denen Flüchtlinge nach Deutschland und nach Österreich gebracht wurden, und in denen noch ihre Spuren zu sehen sind: vergessene Kleidungsstücke. Ein Taschentuch. Blutflecken.
"Oder die Zeitung ‚am‘, ein Independent-Blatt, die einfach nur anhand von Bescheiden, Anträgen und anderem bürokratischen Papierkram, den Flüchtlinge hier als Asylbewerber durchmachen müssen, zeigen, was es heißt, Asylbewerber zu sein und in Deutschland anzukommen."
Als würde das Elend der Welt dadurch erträglicher, dürfen neuerdings auch Künstler Zeitungsseiten gestalten. Maurizio Cattelan und Pierpaolo Ferrari etwa entwickeln wöchentlich wortlose, surreale Fotokolumnen für das Zeitmagazin. Sie hängen nun als Riesencollage in der Ausstellung.

Viele Arbeiten zeigen Widerstand

Viel ironischer und hintersinniger kommt eine Fotoserie der Kategorie "Architektur" daher, in der der Fotograf Leonard Rokita als Barrikadenbauer agiert: Da sieht man den Eingang einer Gewerbeschule verbarrikadiert mit Tischen, Stühlen, Mülleimern und Yucca-Palmen. Oder eine Barrikade aus Tannenbäumen versperrt einen Weg im Grünen.
Peichl: "Überall in der Welt werden im Moment Barrikaden errichtet. So sieht es aus, wenn wir in der Welt ständig Barrikaden errichten! Also, er interpretiert sozusagen unser Abschotten. Auf der anderen Seite ist es auch eine Art Referenz an die autonomen Bewegungen, die ihn immer fasziniert haben, die er immer toll fand."
Andere Arbeiten zeigen wirklichen Widerstand: In einer großartigen Serie über Rassenhass in den USA tritt die weiße Staatsmacht von Bild zu Bild martialischer auf – bis man sie hinter Gasmasken und gezückten Maschinengewehren nicht mehr erkennen kann. Dazwischen: Gesichter demonstrierender Schwarzer – Männer, Frauen und Kinder, die trotz Verletzungen und sichtbarer Angst weiter gegen Rassenhass und mörderische Polizeigewalt auf die Straße gehen.
Damit zeigt die diesjährige Auswahl deutlich, was bisher eher am Rande vorkam: Die von den Herrschenden gern als alternativlos dargestellten Verhältnisse lassen sich verändern.

Visual Leader 2016. Das Beste aus Zeitungen, Zeitschriften und Internet,
Hamburger Deichtorhallen, Haus der Photographie, 27. August bis 30. Oktober 2016

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