Virtuose Außenseiter

Von Jochen Stöckmann · 28.04.2013
Sind versponnene technische Bastler eine neue kreative Klasse? Diese Frage stellte das Symposium "Doing Nerd" in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Dass einige der einst verspotteten Außenseiter längst Elitekarrieren gemacht haben, war eine Erkenntnis der Tagung.
Ganz zart nur scheinen graue Schriftbilder im Berliner Mietshaus Schönhauser Allee 52 von den schneeweißen, frisch renovierten Wänden zu schimmern. Aber die flachen Reliefbuchstaben sind sehr solide, dafür hat der Künstler Felix Müller als gelernter Schriftsetzer gesorgt. Seit Langem schon hatte er hier im Prenzlauer Berg Wohnung und Atelier, sollte dann ausziehen – und konnte nur dank eines anderen Investors, einer Art Weißen Ritter, bleiben.

Diese Erfahrung brachte Müller zusammen mit seiner Partnerin Julia Brodauf dazu, in den Schriftbildern Bewohner des Hauses und langjährige Mieter aus der Nachbarschaft zu Wort kommen zu lassen: mit Erinnerungen an Bombennächte und Judenverfolgung, an Schwarzmarktgeschäfte und Tanzvergnügen in Clärchens Ballhaus. Es sind Lebenszeugnisse eines Alltags, den es immer noch gibt, auch nach und neben jener "kreativen Klasse", die doch angeblich die Geschicke heruntergekommener Stadtteile zum Guten wenden kann.

Und von deren künstlerischem Elan Felix Müller im Touristentrubel an der Schönhauser Allee nicht mehr viel bemerkt:

"Privatisieren ist das richtige Wort: Die haben ja alle ihre Wohnungen auch als Atelier genutzt, etwa mein gesamtes Studienjahr. Und die haben gesagt: Okay, wir nehmen jetzt an dem Art Mainstream nicht mehr teil, es gibt auch keine Galerien mehr im Prenzlauer Berg. Alle sitzen also in ihren Wohnungen und machen, und es geht schon irgendwie. Aber sie sind alle noch da."

Nur hört und sieht man nicht mehr viel von ihnen. Im Gegensatz zu den Nerds, den versponnenen Tüftlern und virtuosen Dilettanten, deren scheinbar abseitige Ideen schon so manchem Start-up-Unternehmen von der Hinterhofexistenz zum Börsenerfolg verholfen haben.

Konnten die Kreativen als Nachfahren der Künstleravantgarde gelten, dann sind für den Soziologen Michael Makropoulos jetzt Nerds, was in den Roaring Twenties die Ingenieure waren:

"Die technische Intelligenz war eigentlich immer eine mindere Intelligenz. Aber das waren die Leute, die technologische Prozesse, die breitenwirksam werden können, vorangetrieben haben."

Kultureller Einfluss der Computertechnik
Die Technik, vor allem Computertechnik, gewinnt damit kulturellen Einfluss, denn Kultur ist ein durch die jeweiligen Blick- und Informationsbahnen erschlossenes Weltverständnis. Die Nerds allerdings schien das bislang kaum zu interessieren, sie verharrten in den Refugien ihrer stillen Geniewinkel, hatten mit sozialem Austausch wenig im Sinn. Signalisiert der Tagungstitel "Doing Nerd" nun ein eher aktives Verhältnis zur Gesellschaft?

Michael Makropoulos: "Es gibt etwas, wogegen auch der Nerd nicht gefeit ist, und das ist Anerkennungsbedürftigkeit. In dem Moment, in dem der Nerd versucht sich in irgendeiner Weise auf Sozialität zu beziehen ist er gefährdet in seinem Nerd-Sein. Nur: Wenn er sich nicht auf Sozialität bezieht, dann bleibt er nicht nur Eigenbrötler, sondern vollkommen wirkungslos, selbst in seinem kleinsten Bereich."

In dem "kleinen Bereich", wo Nerds sich vor heimischen Computern den Frust von der Seele spielen, später auch an Software basteln und ganz ungewöhnliche Programme schreiben, braut sich dagegen für den Kulturwissenschaftler Kai van Eikels etwas zusammen, das er mit sozialpsychologischem Blick "okkulte Leistungssteigerung" nennt.

Die Außenseiter werden belächelt und verspottetet, aber sie bereiten sich auf einen imaginären Tag der Rache vor, an dem sie es allen zeigen werden. Das kommt – auch gegen den Willen der Nerds – der Wirtschaft zugute.

Kai van Eikels: "Ökonomisch funktioniert es sehr gut, Leute spätestens in ihrer Pubertät so zu verletzen, dass sie sich aus dem Begehren nach Rache heraus in Erfolgsbiografien hineinsteigern. Wer die Eliten durchmustert, in Wissenschaft und Technik, die Politiker, die erfolgreichen Unternehmer, dürfte eine Menge Beweismaterial dafür finden."

Spätestens bei solchen Elitekarrieren dürfte es allerdings vorbei sein mit der Sympathie für einst so versponnene Tüftler, die an materiellem Erfolg nicht interessiert schienen und ihre Erfindungen so mancher Community gratis überließen. Aber solche fast schon moralisierenden Wertungen gehen an den eigentlichen Problemen bei der Einschätzung der Kreativität von Nerds vorbei. Der Soziologe Michael Makropoulos:

"Bei Adorno ist es ja dieses spontane Hervorbrechen kreativer Potentiale, die die Individualität ausmachen. Aber das hat nichts zu tun mit der Wirklichkeit einer demokratischen Gesellschaft: Eine demokratische Gesellschaft braucht Standardisierungsprozesse."

Lieber Hacker als Nerd
Für Frank Rieger, den Sprecher des Chaos Computer Club, bedeutet "Standardisierung" nichts Negatives, wenn sie mit einer möglichst weitreichenden Anwendung des technischen Wissen einhergeht. Weshalb er sich auch – im Gegensatz zu vielen Vertretern der in ähnlichen thematischen Zusammenhängen agierenden Piraten-Partei – nicht gerne als Nerd titulieren läßt:

"Ich bevorzuge tatsächlich Hacker, so verstehe ich mich. Was wir versuchen, zu tun: Wir versuchen zu verstehen, wie funktionieren die Dinge? Um sie dann auch anders benutzen zu können. Den Zweck der Dinge nicht zu akzeptieren, nicht zu akzeptieren, was im Handbuch steht. Der Urimpuls des Hackers ist nicht irgendwo einzubrechen, sondern der Urimpuls des Hackers ist zu verstehen, wie funktioniert Technologie – und was kann man damit noch machen."
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