Viele Geschichten von Liebe, Leidenschaft, Tod und Verlust

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 19.09.2011
Seit Freitag findet im baskischen San Sebastian das 59. Internationale Filmfestival statt, eines der großen europäischen A-Filmfestivals. 243 Filme sind insgesamt zu sehen, 15 stehen im Wettbewerb um den Hauptpreis, die "goldene Muschel", sehr wichtig ist auch der, mit 90.000 Euro dotierte Nachwuchspreis "Premio Kutxa Nuevos Realizadores".
Eine junge Frau improvisiert baskische Reime in einem überfüllten Stadion. In seinem Dokumentarfilm "Bersolaris" führt der baskische Regisseur Assier Atuna in die Welt der baskischen Spontandichter, sich vor tausenden Zuschauern mit improvisierten Reimen in Szene setzen, führt in eine Welt jahrhundertealter Traditionen und Erneuerungen. Es gelingt dem Film die Begeisterung für eine alte regionale Tradition zu wecken und eine regionale Geschichte allgemein verständlich zu erzählen. Für den neuen Festivalleiter José Luis Rebordinos gehört der regionale Bezug zum Profil von San Sebastian. In Zeiten der Krise und einer verschärften Konkurrenz unter den internationalen Filmfestivals müsse man sich auf eigene Schwerpunkte stützen:

"Wir möchten uns nicht mit den anderen vergleichen. Unser Gesamtetat ist weniger als die Hälfte als der der großen Festivals. Aber unser Festival hat einen eigenen Charakter. Und wenn ich nach Cannes, Venedig und Berlin schaue, dann ist es mit Bewunderung und um etwas von Ihnen zu lernen. Wir wollen uns aber nicht mit ihnen messen, sondern machen ein Festival mit einer eigenen Linie und diese Identität wird besonders durch die starke spanische und lateinamerikanische Präsenz geprägt."

Spanien und Lateinamerika sind stark in den beiden großen Wettbewerbsprogrammen um die "Concha de Oro”, die goldene Muschel und den Nachwuchspreis vertreten. Dabei geht die Bandbreite vom experimentellen Autorenfilm, über das Melodrama über den spanischen Bürgerkrieg, bis hin zum effektreichen Horrorfilm.

So führte der Eröffnungsfilm "Intruders" von Juan Carlos Fresnadillo nach London und erzählt von Kindern, denen ein böses Monster die Gesichter rauben will. Dabei bleibt der sehr stromlinienförmige Film allerdings irgendwo zwischen Fantasyeffekt und Psychologie stecken, erfüllt weder die einen, noch die anderen Erwartungen. Für Regisseur Juan Carlos Fresnadillos handelt "Intruders" von kollektiven und privaten Ängsten in Spanien und anderswo:

"Ich wollte nichts über die Gesellschaft erzählen, sondern von etwas sehr persönlichem, von der Familie. Erzählen wie Ängste und Albträume letztendlich von verdrängten, versteckten und unausgesprochenen Familiengeheimnissen herrühren. Denn meine tiefsten Angstgefühle kommen von den dunklen Seiten der Menschen, die ich liebe."

In den ersten Tagen dominierte im Wettbewerb das Private: Geschichten um Ängste, Ehebruch und um das Scheitern der eigenen Lebensentwürfe. Die kreative Bandbreite reicht auch hier vom düster-illusionslosen Krimi zum nicht weniger deprimierend im Nachkriegsambiente angesiedelten britischen Ehedrama.

Der neuste Film des südkoreanischen Regisseurs Kim Ki-Duk erzählt von der Irrfahrt einer schwangeren Koreanerin durch Europa. Sie sucht den Vater ihres Kindes in Paris und Venedig. Doch der zeigt sich ihr nicht, trägt eine Gasmaske und quält die junge Frau nachts. Zwischen stilistischer Spröde und beiläufiger Absurdität ist "Amen" auch eine Anspielung an die christliche Mariengeschichte. Und Kim Ki-Duk macht von der ersten Minute seines mit geringen Mitteln entstandenen Films seine Ablehnung der kommerziellen Produktionssystems deutlich:

"Im herkömmlichen Produktionssystem, musste ich immer Rücksicht auf den Zuschauer nehmen. Ich konnte noch so viele Filme machen und hatte immer das Gefühl, sie sind nicht ehrlich. Damit habe ich jetzt gebrochen. Ich mag nicht mehr in für das konventionelle System von Zuschauerquoten und Kommerz arbeiten."

Einen stillen und konsequenten Realismus zeigt der chilenische Regisseur Alejandro Fernandez Almendras in "Sentados frente al fuego" (Am Feuer sitzen), der im Nachwuchswettbewerb gezeigt wird. Er erzählt von den letzten Monaten im Leben einer krebskranken Frau in Chile. Im Vordergrund steht dabei aber der Alltag, das vermeintlich Nebensächliche, die Momente der Stille. Alejandro Fernandez Almendras sucht die Elemente der Wirklichkeit, die auch auf Festivals immer mehr unter den roten Teppich gekehrt werden:

"Ich habe den Eindruck, dass die meisten Filme auf den Festivals, auch Filme junger Regisseure, gerade wenn sie sagen, dass sie gegen das kommerzielle Mainstreamkino sind, sich immer wieder nur auf andere Filme beziehen. Das ist eine ähnliche Entwicklung wie in der modernen Kunst, man bezieht sich auf sich selbst: mit interessanten Genrekombinationen und Anspielungen auf Klassiker. Ich glaube dagegen, dass man noch viel mehr aus der Gegenwart aus der Realität herausholen kann und dass viel zu wenige Filme das versuchen."

Bei strömendem Regen und überfüllten Kinosälen hatte das Festival einen guten Start. Bei oft sehr ähnlichen Grundgeschichten von Liebe und Leidenschaft, Tod und Verlust überrascht die Vielfalt der filmischen Ansätze. Ob dabei am Ende der Genrefilm mit Autorenkinoambitionen oder der soziale Realismus überwiegt, warden die nächsten Tage zeigen.