"Viele Flüchtlinge werden hier entrechtet"

Fanny Dethloff im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 30.10.2013
Fanny Dethloff fordert eine Überprüfung der Erstaufnahmeregelungen für Asylbewerber. "Wir haben immer noch nicht das, was ich Menschenwürde und Respekt gegenüber Flüchtlingen nennen würde", sagte die Vorsitzende des Bundesarbeitskreises "Asyl in der Kirche".
Matthias Hanselmann: Die Hamburger Sankt-Pauli-Kirche und die Berliner Heilig-Kreuz-Kirche machen zurzeit Schlagzeilen, weil sie jeweils eine große Gruppe von Asylsuchenden beherbergen. Ist das aber Kirchenasyl, wie es so oft heißt? Darüber habe ich mit Fanny Dethloff gesprochen. Sie ist Vorsitzende der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche und Beauftragte für Menschenrecht, Flucht und Migration der evangelischen Nordkirche. Frau Dethloff ist zurzeit in Berlin und war vor unserem Gespräch in der Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin-Kreuzberg. Und deshalb meine erste Frage: Mit welchen Eindrücken kommen Sie zu uns ins Studio?

Fanny Dethloff: Worauf Sie anspielen, ist, dass diese Kirche vor wenigen Tagen in einem Nebengebäude eben 20 Flüchtlinge, die auf der Straße waren und im Hungerstreik waren, ein Dach über dem Kopf geboten haben, und die sich sehr um die Lösung mit kümmern. Das freut mich sehr, dass Kirche einfach an dieser Stelle als Moderatorin, aber auch als Hilfestellung, als erste Hilfe da einsteigt.

Hanselmann: Sie sind dort nicht im klassischen Sinn in der Kirche untergebracht, sondern in Räumen in der Gemeinde. In Hamburg sind seit Juni ebenfalls rund 80 Asylsuchende in den Räumen einer Kirche untergebracht, in der Sankt-Pauli-Kirche. Wie ist die Lage dieser Menschen dort in Hamburg?

Dethloff: Zunächst einmal, es sind etwa 270 Leute in Hamburg, die an unterschiedlichen Plätzen untergebracht sind, ...

Hanselmann: Insgesamt, ja.

Dethloff: ... das ist immer sehr wichtig zu sagen, dass eben auch Moscheen, aber auch Nichtregierungsorganisationen diese Menschen aufgenommen haben. Ja, 80 sind in der Sankt-Pauli-Kirche untergebracht. Und die Situation ist schon auch sehr angestrengt und verzweifelt zwischendrin, weil man sich vorstellen kann, nicht zu wissen, wie es weitergeht, tut allen nicht gut.

Jetzt haben wir hoffentlich bald eine Lösung in Hamburg, auch eine politische Lösung, die darüber läuft, dass man jeden Einzelfall prüft und dann die Menschen erst mal mit einer Duldung und mit einem vorübergehenden Aufenthalt ausstattet, wahrscheinlich auch mit einer Arbeitsgenehmigung.

Das ist etwas, was die unbedingt brauchen, sie brauchen Beschäftigung. Sie sind seit 2011 eben durch die Libyen-Krise unterwegs in Europa und ich denke, diese Leute haben irgendwann mal auch ein Recht, irgendwo anzukommen. Sie sind vertrieben worden von dort, sie sind aber auch letztlich aus Italien vertrieben worden. Es wäre schlecht, wenn das die einzige Antwort Europas wäre auf solche Nöte.

"Sie wollen irgendwo einen Platz haben"
Hanselmann: Ich habe eben den Begriff Asylsuchende gebraucht in Bezug auf diese Menschen, da sind Sie, glaube ich, nicht ganz mit einverstanden?

Dethloff: Nein, das sind Flüchtlinge oder Migranten, würde man besser sagen. Das ist das Problem eben: Sie haben bereits in Italien um Asyl nachgesucht, sie haben humanitären Aufenthaltsstatus, teilweise haben sie auch schon richtigen Asylstatus erhalten. Das heißt, sie müssen nicht noch einmal in ein Asylverfahren hier gehen, sondern sie erwarten eigentlich nur einen humanitären Aufenthalt in Hamburg, um anzukommen, um ein Dach über den Kopf zu kriegen, um auch mitzuarbeiten in der Gesellschaft. Also, sie wollen irgendwo einen Platz haben.

Hanselmann: Es wird immer in den Medien gesprochen von Kirchenasyl. Sowohl, was Sankt Pauli in Hamburg betrifft, als auch Berlin. Ist das auch wirklich Kirchenasyl, was ihnen gewährt wird?

Dethloff: Als Bundesvorsitzende freut es mich, dass so oft Kirchenasyl im Moment in aller Munde ist, aber ich muss darauf hinweisen, dass das noch was anderes ist. Wir als Kirchen haben immer, jahrhundertelang unsere Türen offengehalten für viele Menschen, die Probleme hatten. Das tun wir auch an dieser Stelle.

Kirchenasyl ist inzwischen ein fest geprägter Begriff seit 30 Jahren und meint, dass ich eine konkrete Familie, eine konkrete Einzelperson habe, die kurz vor der Abschiebung steht und die ich schütze, indem ich in kirchlichen Räumen sie aufnehme, um dann aber vor allen Dingen den Behörden Mitteilung zu machen, wer sich in meinen kirchlichen Räumen aufhält, und zu sagen, dass wir auf jeden Fall Beweise für die Geschichte dieser Person noch nachliefern oder aber Verhandlungen führen.

Das braucht einen engen Kontakt zu den Behörden, das ist ein lang eingespieltes Verfahren. Von daher ist es immer ein bisschen schade, wenn man diese humanitäre Aufnahme, die im Moment läuft, dass man einfach ein paar Matratzen hinlegt und den Leuten erst mal was zu essen gibt, dass das mit Kirchenasyl verwechselt wird.

Hanselmann: Ist dieser Raum der Kirchen denn dann im gewissen Sinne unantastbar durch die Behörden?

Dethloff: Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat, und nein, es gibt da keine extraterritorialen Räumlichkeiten oder gar heilige Räume, wo der Staat nicht hindürfe. Der Staat kann jederzeit sich Zutritt verschaffen, das ist auch schon passiert. Kirchenasyle sind auch geräumt worden. Wir bitten eigentlich immer nur um einen Zeitaufschub, um in der Zeit dann noch mal nachzuweisen, dass es sich zum Beispiel um besonders verwundbare Personen handelt, also Menschen mit einer besonderen Geschichte.

Das gelingt uns in immerhin über 70 Prozent der Fälle, nachzuweisen, dass hier das Asylverfahren oder die nächste Instanz nicht richtig entschieden hat. Und wir bitten dafür immer um Zeitaufschub. Ich bin da, ich sage mal, nicht sehr fordernd und sage, in heiligen Räumen hat der Staat nichts zu suchen oder so, das, finde ich, ist auch keine gute Theologie, es ist aber auch keine gute demokratische Grundauffassung. Und ich glaube schon, dass ich unsere Verfassung sehr schätze.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", ich spreche mit Fanny Dethloff. Sie ist die Vorsitzende der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche und Beauftragte für Menschenrecht, Flucht und Migration der Nordkirche. Frau Dethloff, es ist ja immer wieder die Frage, wie weit darf sich Kirche oder muss sich Kirche in Politik einmischen. Wie ist da der aktuelle Stand innerhalb der evangelischen Kirche, was die Flüchtlings- beziehungsweise Asyl-Suchenden-Frage anbelangt?

Dethloff: Ich glaube, dass wir in der protestantischen Kirche gelernt haben, dass das Schreien für Menschen in Not wichtig ist. Und wir sind da auch als protestantische Kirche sicherlich ganz nahe dem Papst, auch wenn das merkwürdig klingt, der sich schämt angesichts der Bilder in Lampedusa und uns alle in Europa aufruft, doch umzukehren. Ich glaube, so ähnlich machen wir das schon sehr, sehr lange, dass wir darauf hinweisen, dass unsere Politik mit der absoluten Abschottung Europas so nicht angeht.

"Wir dürfen niemanden instrumentalisieren"
Hanselmann: Frau Dethloff, der integrationspolitische Sprecher der CDU, Burkard Dregger, sagte angesichts der Situation in Berlin Folgendes: All die linken Gruppen, die diesen armen Menschen einreden, sie würden schlecht behandelt werden und müssten hier politischen Protest inszenieren, handeln schändlich, denn sie instrumentalisieren die Menschen, um ihre eigenen politischen Forderungen durchzusetzen und Deutschland schlechtzureden. Was würden Sie Herrn Dregger entgegnen?

Dethloff: Ich würde ja auch sagen, wir dürfen niemanden instrumentalisieren. Also, wir sollten keine Gruppe, auch keine Flüchtlinge insgesamt instrumentalisieren, sondern wir sollten immer gucken, dass jeder Einzelne zu Wort kommen kann und dass er auch seine Sache vertreten kann.

Aber das ist sehr schwierig in unserem Land, und ich glaube, dass viele einfach noch mal genauer hinschauen sollten, wie Erstaufnahme gestaltet ist, wie schwierig es ist auch für Ehrenamtliche, Flüchtlinge im Asylverfahren zu begleiten oder auf Ausländerbehörden zu begleiten, wie hart der Ton dort ist. Und natürlich, solche Gesetze wie Residenzpflicht, die es nirgendwo in Europa sonst gibt, machen das Bild noch mal komplett. Das heißt, viele Flüchtlinge werden her entrechtet.

Da muss ich Deutschland nicht schlechtreden, sondern da muss Deutschland einfach noch mal den Blick ins Ausland auch machen. Wir haben oft bessere Bedingungen, das muss ich auch sagen. Also, wenn wir Italien, Ungarn oder so nehmen oder Malta, dann sehen wir, dass dort Menschen sofort inhaftiert werden, das tun wir hier nicht. Aber wir haben immer noch nicht das, was ich, ich sage mal, Menschenwürde und Respekt gegenüber Flüchtlingen nennen würde.

Hanselmann: Was müsste auf der juristischen Ebene als Allererstes passieren, um die Situation zu verbessern?

Dethloff: Es kann ja nicht sein, dass die Mitte Europas sich möglichst schadlos hält und immer wieder an die Grenzen zurückschiebt. Also, wir haben so Fälle von einem jungen Somalier zum Beispiel, der 23-jährig ist, der 5 Jahre lang fünfmal nach Ungarn zurückgeschoben worden ist, der in der Zeit keine Schule besuchen konnte, der nichts für sich machen konnte, der aber wahnsinnig intelligent ist, denn der ist schon aus Somalia mal nach Kenia geflohen und hat dort einen High-School-Abschluss gebastelt. Das heißt ...

Hanselmann: Nach Ungarn deshalb, weil das das erste Land war, ...

Dethloff: Weil das erste Land, genau, weil das die Regelung ist.

Hanselmann: ... das er betreten hat.

"Dieses Jahr sehr viele aufgenommen, aber wir sind 82 Millionen"
Dethloff: Das ist die Regelung in Dublin und das macht so überhaupt keinen Sinn. Ich glaube, das Erste, was mal passieren müsste, ist nicht, dass wir über Angela Merkels Handy zu lange diskutieren sollten auf so einem Europagipfel, sondern wirklich beschließen sollten, wir setzen jetzt mal Dublin aus für eine gewisse Zeit und denken neu nach.

Das Nächste ist zu sagen, lasst die Leute wählen, in welchem Land sie ihr Asylverfahren durchführen möchten! Denn viele haben Familienbeziehungen, haben Gruppen, haben Freunde, haben ihr Dorf irgendwo in dieser Welt, und zwar in Europa.

Hanselmann: Aber an dem Punkt hört man dann immer, dann wollen sie sowieso alle nach Deutschland.

Dethloff: Das stimmt so nicht. Man muss einfach die Zahlen da noch mal gegensetzen: Ja, wir haben dieses Jahr sehr viele aufgenommen, aber wir sind 82 Millionen und haben 100.000 Menschen aufgenommen. Schweden ist zum Beispiel ein Acht-Millionen-Volk, was 40.000 Asylsuchende aufnimmt, das sind einfach noch mal andere Zahlen. Da redet sich Herr Friedrich auch immer gerne die Zahlen schön.

Hanselmann: Vielleicht zum Schluss noch mal, weil es aktuell ist, zum Thema Residenzpflicht: Befürworter der Residenzpflicht malen ein bestimmtes Schreckensbild, dass nämlich, wenn sie bundesweit aufgehoben würde, ein großer Run auf Berlin stattfinden würde, also alle Asylsuchenden, alle Flüchtlinge würden versuchen, in Berlin ihr Mekka zu finden, und das würde keine große Stadt aushalten. Was sagen Sie dazu?

Dethloff: Ich glaube das so nicht. Nicht, dass es nicht auch Sinn macht, Menschen Angebote zu machen, wo sie sich aufhalten können, aber es macht so überhaupt keinen Sinn, Asylbewerberlager irgendwo in sonst wo hinzusetzen, ohne dass es eine Infrastruktur gibt für sie, ohne Beratungsstellen, ohne Menschen, die sich um sie kümmern.

Ich war in Südafrika, und es hat mich ein junger Afrikaner gefragt, warum Deutschland das einzige Land mit Apartheid noch sei! Worauf ich als gute Demokratin sofort irgendwie also mich empört habe und gesagt habe, was ihm einfiele, und das wäre ja wohl überhaupt nicht wahr. Und er hat gesagt, doch, also, wenn Menschen nirgendwo leben dürfen, sondern zugewiesen werden, wenn sie kein Dach über dem Kopf sich selbst suchen dürfen, sondern in ein Lager kommen, und wenn sie dann noch nicht mal dieses verlassen dürfen, dann nennen die das dort Apartheid. Und er hätte gehört, das wäre in Deutschland so. Ich kam in Erklärungsnöte.

Und ich finde, das ist auch etwas, was wir nicht nötig haben als demokratischer Rechtsstaat. Komischerweise kommen ja andere Länder auch ohne solche Residenzpflichten hin. Ich würde ja sagen, dass werbendes Locken und Werben von Kleinstädten für Neuzuzüge gerade für Familien ein adäquates Mittel wäre. Das würde das Ganze mal umdrehen. Davon sind wir leider noch ein bisschen entfernt.

Hanselmann: Vielen Dank an Fanny Dethloff, die Beauftragte für Menschenrecht, Flucht und Migration der evangelischen Nordkirche und Vorsitzende von Asyl in der Kirche, das ist eine ökumenische Vereinigung. Wir haben über die Lage von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland und über das Kirchenasyl gesprochen.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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