Verzeihen oder die Anleitung zum Happy End

Von Astrid Mayerle · 04.12.2010
Das Gebot der Nächstenliebe schützt das soziale Miteinander. Es ist aber eine der schwierigsten Aufgaben, denn es bedeutet, dem Anderen, dem Nächsten trotz einer Verletzung immer wieder offen zu begegnen.
Der klassische Rosenkrieg: Ein Paar streitet sich wegen einer Kleinigkeit. Der eine ist verletzt, der andere auch. Die Situation ist verfahren, keiner will auf den anderen zugehen. Er sagt: Du hast ja Recht, sie sagt: Recht hat ja jeder ständig, darum geht's nicht, sondern, dass wir zusammenfinden. Dann sagt irgendwann einer von beiden: Du, ich brauche jetzt ein Happy End.

Der Verweis auf die finale Filmszene, das schöne Hollywoodmärchen, an das wir nicht mehr glauben, verleiht der Szene etwas Groteskes und drückt gleichzeitig aus, wonach sich beide sehnen: Dass es gut ausgeht. Wir haben es in der Hand, wie unsere Geschichten ausgehen, wir sind Drehbuchschreiber, Regisseure und Schauspieler in einem.

"Um verzeihen und vergeben zu können, setzt es voraus, dass ich als Person die Stärke hab, auch mit Verletzungen leben zu können. Wenn ich merke, dass ich von einer Verletzung so getroffen bin, dass sie mich so blockiert und belastet, dass ich sie nicht loslassen kann, wird es auch schwieriger sein im Umgang mit jemand anderem","

so der Moraltheologe Jochen Sautermeister, der auch als Therapeut arbeitet und dabei schon verschiedene Rosenkriege erlebt hat.

""Verzeihen und Vergeben ist oft was, wo man denkt, das ist etwas rein Emotionales, ich kann jemandem erst verzeihen, wenn ich fühle, das ist jetzt wieder gut. Gleichzeitig hat Verzeihen aber auch einen ganz wichtigen Aspekt in der Entscheidung, also dass es auch der Punkt ist, bin ich bereit, jemandem zu verzeihen und damit auch einen Prozess der Versöhnung in Gang setzen kann. Im Christlichen, weil Gott uns die Vergebung gibt, darum können und dürfen wir anderen vergeben, aber wir merken auch, dass Vergebung immer erfahrbar sein muss. Das ist ein Anspruch, dass man Vergebung lebt, nur dann wird sie erfahrbar."

Die christliche Nächstenliebe beinhaltet verschiedene Tugenden, darunter auch die Fähigkeit zu vergeben. Als eine Art Katalysator gilt dabei die Gnade Gottes, die der religiöse Mensch erfahren kann. Die göttliche Gnade verleiht den Menschen die Fähigkeit, den Umgang mit der Schuld des Anderen, des Nächsten zu lernen. Die Erziehungswissenschaftlerin Käthe Meyer-Drawe:

"Ich würde sagen, dass Gnade ein Moment des Verzeihens ist. Das fällt nicht ganz zusammen, weil man ja auch großzügig in anderen Situationen sein kann, wo es nicht um Unrecht oder Schuld geht. Gnade ist ein Moment, wenn wir durch die Arbeit an der Schuld hindurchgegangen sind, dann bekommt das Verzeihen eben diesen Glanz der Gnade."

Glaubensgemeinschaften neigen dazu, das Verzeihen einzufordern, doch diese Geste – so Psychologen -, kann man nicht voraussetzen oder erzwingen. Vor allem dann nicht, wenn es sich um tiefe Verletzungen, um schwerwiegende Konflikte handelt. Dann steht zunächst ein langwieriger, mitunter schmerzhafter Prozess an. Willi Butollo ist Traumatherapeut, er arbeitet mit Menschen, die einschneidende Erfahrungen gemacht haben, vor allem mit Gewalt.

"Es wird in unserer Therapie nicht gefördert, in einem frühen Stadium der Heilung Verzeihen zu pushen. Denn es gibt falsches Verzeihen. In der Therapie ist es so, dass die traumatisierten Menschen erstmal den Wert von sich selbst verloren haben, sie haben keine Wertschätzung für sich selbst mehr, weil die Tat ein traumatisierender Akt, zum Beispiel eine Gewalttat, eine dermaßen demütigende Maßnahme ist, die das Opfer in seiner Not auch akzeptiert. Das heißt, die Therapie ist über längere Zeit damit beschäftigt, den Selbstwert des Menschen wiederherzustellen, das heißt, Grenzen zu ziehen, die stabil sind, zwischen dem eigenen Selbst und den Anderen und an diesen Grenzen wieder verhandeln zu lernen."

Falsches Verzeihen könnte darin bestehen, diesen Prozess nicht auszutragen und einen nötigen Konflikt zu vermeiden. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Der zweite Teil des Satzes ist hier entscheidend, das "wie dich selbst". Zu frühes und falsches Verzeihen wäre dann der Fall, wenn die Selbstliebe noch nicht wiederhergestellt und daher die Achtung vor den eigenen Bedürfnissen noch nicht gewährleistet wäre.
"Wenn der Mensch sich selbst liebt, hat er auch die Voraussetzungen, den Nächsten zu lieben. Sich selbst zu lieben würde heißen, sich selbst zu achten und zu respektieren und das wäre die Voraussetzung für die Nächstenliebe."

Verzeihen können hat aber auch noch mit anderen Aspekten zu tun. Nur wer die eigenen Schwächen akzeptiert, kann auch mit einem wohlwollenden Auge die des Anderen erkennen und diese annehmen. Jochen Sautermeister, Moraltheologe und Paartherapeut:

"Das ist fast ein bisschen wie ein Perspektivwechsel. Zu verstehen: Wie ist das gekommen? Und das setzt aber auch voraus, dass man die Macht aufgibt, scheinbar das Opfer zu sein. Das aufzugeben ist ein ganz wichtiger Punkt, zu sagen: Ich entlasse dich, damit ein neuer Schritt möglich wird. In Paarprozessen kann das oft eine Weile dauern, oft sind dann Versöhnungsrituale hilfreich, wo die Paare ganz bewusst ein Ritual ausarbeiten, wie sei sich verzeihen und sagen, wo sie sich verletzt haben."

"Ich glaube, dass das Verzeihen ein Abschließen beinhaltet, ein endgültiges Loslassen. Der, der nicht verzeiht, hat irgendeine Art von Profit am Festhalten der Schuld. Irgendeinen psychischen Profit, darüber dass sich über den Anderen stellen kann."

Die moderne Verhaltenstherapie arbeitet vor allem mit dem Gespräch und demzufolge mit der Versprachlichung von Gefühlen und Beziehungsbotschaften. Für die Erziehungswissenschaftlerin Käthe Meyer-Drawe ist das Verzeihen eher eine Geste. Diese kann nur schwer oder kaum durch Sprache eingeholt werden:

"Es ist überhaupt nicht berechenbar und verfügbar, es ist eine hochfragile Geste. Und deswegen meine ich auch, sie erträgt die Versprachlichung nicht. Hier richtet Sprache etwas an, wenn gesagt wird, 'Ich verzeihe ihm oder dir'. Das ist nicht das, was die Verzeihung ausmacht."

Worin aber besteht dann die Geste und der Prozess, wenn nicht in einem abschließenden Satz?

"Wenn ich bei dem bleibe, was ich gesagt habe, ist Verzeihen kein Denkakt, sondern es ist ein Zustand, ein Klima, eine Atmosphäre, ein leibliches Ausdrucksverhalten, das ohnehin nicht in Denken zu überführen ist."

Ein Pärchen auf der Straße: Sie gestikuliert heftig, beide laufen in großen Schritten und sehen sich nicht an, beide stampfen mit ihren Füße wütend auf den Boden. Plötzlich bleibt der junge Mann stehen, haut sich mit seiner eigenen, seiner linken Hand auf die rechte Backe, zieht dann seine Freundin an sich. Sie lacht.
Nein, keine Filmszene. Hier haben zwei sehr spontan mitten auf offener Straße ihr Versöhnungsritual gefunden. Seine Ohrfeige auf die eigene Backe war das Signal, ok, ich hab was falsch gemacht, das Eingeständnis eines Fehlers, der Kuss die Bestätigung seiner Zuneigung, das Ganze natürlich auch ein kleines Schauspiel: Er macht sich zum Clown, sie lacht und in ihrem Lachen steckt schon der Beginn ihres Verzeihens, was immer der Anlass des Streits gewesen sein mag. In diesem Fall vermutlich nur ein kleiner Zwischenfall. Aber der bekommt hier sein Happy End. Wenn es nur immer so einfach wäre....
Mehr zum Thema