Versorgungssystem

Lieber gesund bleiben

Ein Doktor mit einem Patienten auf dem Weg zur Intensive-Care Unit (ICU) im russischen Regional Vascular Center zur Behandlung von Gefäßkrankheiten.
Wie schnell einem Patienten in Russland geholfen wird, hängt vor allem von dessen Geldbeutel ab. © picture alliance / dpa / Matytsin Valery
Von Gesine Dornblüth · 26.08.2014
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen die Menschen in Russland kostenlos rundum versorgt wurden. Die Regierung gibt zwar viel Geld für eine Gesundheitsreform aus, schafft jedoch vor allem teures Gerät an. Das Thema beschäftigt die Russen wie kaum ein anderes und gewinnt vor dem Hintergrund von möglichen EU-Einfuhrbeschränkungen für medizinische Ausstattung weiter an Brisanz.
Samstag Mittag auf dem Platz der Revolution in Moskau. Im steinernen Rücken von Karl Marx stehen drei Dutzend Demonstranten mit roten Fahnen. Viele von ihnen sind Ärzte und Krankenschwestern. Die sozialistische Splitterpartei "Rot-front" hat zu der Kundgebung gerufen.
Sprecher per Megafon:"Es ist schrecklich, dass es Krieg gibt im Donbass. Das ist unfassbar. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass das normale Leben in unserem Land weiter geht. Die russische Regierung, die russischen Beamten nutzen es aus, dass die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Ukraine, auf die Sanktionen gerichtet ist, und setzen ihr schmutziges Spiel fort."
Die Ärzte und Schwestern sollen ihre Dienstwohnungen verlassen. Sie fühlen sich betrogen, vermuten, dass korrupte Beamte die Wohnungen in Eigentum verwandeln und teuer verkaufen wollen, zum eigenen Nutzen. Aber das ist nur der Anlass der Demonstration. Russlands Ärzte fühlen sich generell schlecht behandelt. Seit Jahren läuft eine Gesundheitsreform. Kliniken werden modernisiert und zusammengelegt. Dabei fließen Milliardenbeträge. Die Löhne der Ärzte aber bleiben gering, sinken sogar, obwohl Präsident Putin angeordnet hat, medizinisches Personal besser zu bezahlen. Und die Arbeitsbelastung steigt.
Irina, Fachärztin für Ultraschalluntersuchungen, arbeitet in einer Poliklinik am Moskauer Stadtrand.
"Ich habe etwa 20 Minuten pro Patient und etwa 15 Termine am Tag. Dazu kommen aber noch Notfälle, Leute ohne Termin. Und von September bis Mai haben wir zwei Mal pro Woche Schuluntersuchungen. Da kommen zwei Schulklassen am Tag zur Vorsorge, mit jeweils 35 Schülern. Stellen Sie sich das mal vor. Bei jedem betrachte ich die Bauchhöhle, die Schilddrüse und die Geschlechtsorgane, und ich muss die Daten eingeben. Dafür brauche ich eigentlich 30 bis 40 Minuten pro Person. Ich muss aber in fünf Stunden 60 Patienten abfertigen. Wenn ich abends nach Hause komme, habe ich das Gefühl, meine rechte Seite fällt ab. Alles tut weh."
Ärzteverdienst 800 Euro monatlich
Irina ist alleinerziehend, hat zwei Kinder. Sie verdient im Schnitt 40.000 Rubel im Monat, umgerechnet rund 800 Euro – und das in einer der teuersten Städte der Welt. Sie kommt nur zurecht, weil ihre Mutter sie unterstützt. Im Urlaub war sie das letzte Mal vor fünf Jahren. Eine Kollegin mischt sich ein, auch sie heißt Irina, sie ist Kinderärztin.
"Es gibt in allen Polikliniken sehr viele freie Stellen. Die Arbeit ist schwer, besonders unter den jetzigen Bedingungen. Das will doch niemand machen."
Sie täten trotz allem ihr Bestes, beteuert die andere Irina.
"Wir sind nicht wegen des Geldes Ärzte geworden. Wir wussten vorher, dass das kein angesehener Beruf ist, dass er schlecht bezahlt wird. Die Bedingungen sind zwar schlecht, aber das wirkt sich nicht auf die Qualität unserer Arbeit aus."
Alla Frolova glaubt das nicht. Die 49-Jährige Ingenieurin hat eine Bewegung gegründet: "Gemeinsam für eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung". Mindestens einmal pro Woche steht sie mit Gleichgesinnten wahlweise vor dem Gesundheitsministerium, vor der Gesundheitsverwaltung der Stadt Moskau oder vor einer Klinik und demonstriert für die Rechte der Patienten.
"Ich habe den ersten Schock 2008 erlitten. Da bin ich binnen weniger Stunden Witwe geworden. Meinem Mann wurde bei der Arbeit schlecht, um drei Uhr nachmittags. Das Maß an Gleichgültigkeit bei sämtlichem medizinischen Personal hat mich beeindruckt. Die Ambulanz kam nach einer Stunde. Wir haben eine Stunde bis ins Krankenhaus gebraucht. Dann haben sie ihn eine Stunde liegenlassen. Und dann ist er gestorben, ohne noch mal zu Bewusstsein zu kommen. Was diese Ärzte mir damals gesagt haben, werde ich nie vergessen: Als ich gefragt habe, ob sie irgendetwas unternehmen werden, haben sie gesagt: Wozu? Der stirbt eh bald."
Polikliniken werden geschlossen
Vor zwei Jahren sollte dann die Poliklinik in ihrem Wohnbezirk geschlossen werden. In Russland hat jeder Bürger per Gesetz Anspruch auf ärztliche Versorgung am Wohnort oder am Arbeitsplatz. Ob Zahnschmerzen, Grippe oder ein Bandscheibenvorfall – der erste Weg führt in die Poliklinik. Das System stammt noch aus Sowjetzeiten. Doch nun werden viele Kliniken zusammengelegt. Alla Frolova brauchte bis dahin zehn Minuten zu Fuß in ihre Poliklinik, nun hätte sie mit der Metro fahren und dann noch 20 Minuten zu Fuß gehen müssen.
"Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das mit zwei kleinen Kindern ist, im Winter, mit der Metro, wenn das Kind hohes Fieber hat … Außerdem verstößt das einfach gegen das Gesetz. Gesetze sind für alle da. Und alle Gesetze müssen eingehalten werden. Nicht nur die, die finanziellen Nutzen bringen."
Frolova schrieb Briefe, sprach Abgeordnete an. Mit Erfolg: Die Poliklinik in ihrem Wohngebiet bleibt. Insgesamt aber werden Kliniken und Krankenhausbetten abgebaut, und zwar in großem Maß. Einem aktuellen Bericht des russischen Rechnungshofes zufolge sind im Jahr 2013 allein in Moskau vier Prozent der Betten gestrichen worden. In anderen Regionen sind es bis zu zehn Prozent. Außerdem, so der Vorwurf des Rechnungshofes, missbrauchen die städtischen Einrichtungen Betten und Geräte, die eigentlich der kostenlosen Versorgung vorbehalten sind, für private Patienten.
Der Anteil der Menschen, die für ihre Behandlung zahlen, sei im vergangenen Jahr um zwölf Prozent gestiegen. Die Behörden definieren Quoten für kostenlose Behandlungen. Doch die reichen oft nicht aus, daher gibt es lange Wartezeiten. Das russische Fernsehen berichtete jüngst über das Mädchen Nastja aus dem Moskauer Umland. Nastja lag im Koma, mittlerweile sitzt sie im Rollstuhl. Die Ärzte sagen, sie könne wieder vollständig sprechen und schreiben lernen, wenn sie schnell Therapie bekomme. Die Mutter sagte den Reportern:
"Wir wohnen zwar dicht am Stadtrand von Moskau, bekommen aber trotzdem keinen kostenlosen Therapieplatz. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl. Wir haben vor drei Monaten einen beantragt, haben aber bis jetzt weder eine Zu-, noch eine Absage."
Anrecht auf kostenlose Therapie
Dabei hat Nastja laut russischer Verfassung ein Anrecht auf kostenlose Therapie. Artikel 41 spricht jedem Bürger das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung zu. Es heißt dort, sie werde aus staatlichen Mitteln oder über Versicherungsbeiträge finanziert. Doch das funktioniert nicht. Es gibt zwar eine staatliche Krankenversicherung. Über sie ist jeder russische Arbeitnehmer pflichtversichert. Aber es kommt nicht genug Geld in die Kasse, unter anderem weil viele Russen schwarzarbeiten oder nur einen Teil ihres Lohns offiziell beziehen. Dementsprechend sind die Versicherungsbeträge gering.
Einige wohlhabende Russen schließen zusätzlich eine private Krankenversicherung ab, aber auch die privaten Versicherer decken längst nicht alle Leistungen ab. De facto hat Russland deshalb heute eine Zweiklassenmedizin. Wer es sich leisten kann, geht in Privatkliniken. Neben Geld zählen Beziehungen. Beamte werden in eigenen Kliniken behandelt. Ebenso Angehörige bestimmter Berufsgruppen. Allen anderen bleiben die staatlichen Kliniken mit ihren Warteschlangen.
Judif und Valerij Kovtun leben in Moskau. Die beiden sind 69 und 78 Jahre alt, sie ist Lehrerin, er Chemiker. Beide arbeiten noch – weil es ihnen Spaß macht, und weil sie ihre Rente aufbessern wollen. Im Frühjahr wurde bei Valerij Kovtun ein Thrombus in der Lunge entdeckt. Seitdem ist er an ein Sauerstoffgerät angeschlossen. Die Schläuche liegen in der ganzen Wohnung.
"Hier steht das Gerät. Es ist Tag und Nacht in Betrieb."
Sonderbehandlung für bestimmte Berufsgruppen
Im Frühjahr wurde Valerij Kovtun operiert, es war eine schwierige Operation. Alles war kostenlos. Weil er in einem militärärztlichen Institut arbeitet.
"Selbst die teuersten Untersuchungen haben nichts gekostet, nicht mal die Computertomographie. Die teuren Medikamente muss ich natürlich selbst bezahlen. Aber im Vergleich zu anderen möglichen Ausgaben ist das zu schaffen."
Medikamente sind in Russland nur während eines stationären Aufenthaltes kostenlos. Wird ein Patient aus dem Krankenhaus entlassen, muss er sie selbst bezahlen. Auch das widerspricht, Kritikern zufolge, dem Grundsatz der kostenlosen medizinischen Versorgung und stürzt mitunter ganze Familien in die Armut.
Judif Kovtun geht in ein anderes Zimmer. Auf dem Tisch steht ein kleineres, mobiles Gerät. Ihr Mann trägt es in einem Rucksack, wenn er unterwegs ist.
"Das ist der zweite Apparat. Valera, kann ich den mal anschalten?"
Beide Geräte haben zusammen rund 5000 Euro gekostet, das eine stammt aus Deutschland, das andere aus Japan. Was machen Menschen, die krank sind und dieses Geld nicht haben?
Judif: "Das frage ich mich auch …"
Valerij:"Es gibt auch Geräte aus China. Die kosten ein Viertel oder ein Drittel. Wir haben auch erst ein chinesisches Gerät gekauft. In nicht mal sechs Monaten ist das drei Mal kaputt gegangen."
Privatkliniken sind sehr teuer
Auch Judif Kovtun hat eine Operation hinter sich, am Herz. Auch dieser Eingriff war kostenlos, sie war in einem städtischen Krankenhaus. Sie sei über eine Quote hineingerutscht und habe nur wenige Monate warten müssen. Es sei alles gut gelaufen. Trotzdem geht die Lehrerin nun, wenn sie krank ist, in eine Privatklinik.
"Weil es dort schneller geht. Weil dort wenig Patienten sind. Und weil mir die Ärzte dort gefallen. Das einzige, was mir dort nicht gefällt, ist, dass es natürlich sehr teuer ist. Ich habe mal versucht, das alles zusammen zu rechnen, aber die Summe war so hoch, dass ich beschlossen habe, es lieber zu lassen. Solange mein Mann und ich noch arbeiten, können wir die Rechnungen bezahlen. Wenn wir in Rente sind, wird das wohl nicht mehr gehen. Dann werde zumindest ich in die städtische Poliklinik gehen müssen. Valera kann weiterhin in seine Behördenklinik."
Die Aktivistin Alla Frolova von der Bewegung "Für eine menschenwürdige Medizin" sagt, die russische Regierung habe das Wohl der Bürger aus den Augen verloren. Die Menschen in Russland seien nicht in der Lage, für ihre medizinische Behandlung zu bezahlen. Sie sei nicht gegen die Einführung einer privaten Medizin, aber …
"Die Menschen sollten die Wahl haben. Wir sind ein Sozialstaat. Zumindest formal. Und in einem Sozialstaat müssen soziale Verpflichtungen eingehalten werden."
Das wäre leichter, meint Frolova, wenn nicht so viel Geld, das eigentlich für die Patienten gedacht wäre, in schwarzen Kanälen versickern würde. Die Korruption im Gesundheitssystem ist berüchtigt. Im zentralrussischen Tula zum Beispiel wurde der Leiter der Gesundheitsbehörde verurteilt, nachdem er Tomographen zu einem Mehrfachen ihres eigentlichen Preises eingekauft hatte – und die Differenz in die eigene Tasche gesteckt hatte. Und das war kein Einzelfall.
Kommerzialisierung der Medizin
Die Korruption im Bildungswesen sorgt außerdem dafür, dass angehende Ärzte ihr Diplom kaufen können. Bewohner abgelegener Regionen erzählen, sie würden deshalb nach Möglichkeit lieber nicht zum Arzt gehen. Und wenn Ärzte ein Studium redlich abgeschlossen haben, führt die schlechte Bezahlung dazu, dass viele von ihnen zwei oder mehrere Jobs machen. Dadurch fehlt ihnen die Zeit, sich weiterzubilden.
Wer es sich leisten kann, lässt sich deshalb im Ausland behandeln. Die für Gesundheitspolitik zuständige stellvertretende Premierministerin Russlands Olga Golodez will dem offenbar einen Riegel vorschieben. Vor wenigen Wochen sagte sie, so gut wie alle Krankheiten könnten auch in russischen Krankenhäusern behandelt werden. Sie löste damit einen Sturm der Entrüstung aus. Vor dem Hintergrund der Sanktionen westlicher Staaten gegen Russland diskutieren russische Politiker nun sogar darüber, die Einfuhr ausländischer medizinischer Geräte zu verbieten. Das wäre fatal, denn fast die gesamte Ausstattung in den russischen Kliniken stammt aus dem Ausland. Irina, die Fachärztin für Ultraschalluntersuchungen, schüttelt den Kopf.
"Bei uns jedenfalls haben wir keine russischen Geräte. Mein Ultraschallgerät kommt aus Italien."
Das Gesundheitsministerium war trotz wiederholter schriftlicher Anfragen zu keiner Stellungnahme bereit. Die Moskauerin Alla Frolova von der Bewegung für eine menschenwürdige Medizin räumt ein:
"Die Richtung ist klar: Es geht um eine Kommerzialisierung der Medizin. Bei mir entsteht der Eindruck, der Staat handelt nach dem Motto: Der Stärkere überlebt. Manchmal kriege ich wirklich Angst."
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