Verschleierte Sklaverei

Von Raschid Bockemühl · 07.04.2006
Die Konferenz von Algeciras besiegelte 1906 Marokkos Schicksal als französisch-spanisches Protektorat. Deutschland war mit Provokationen gegenüber Frankreich an den internationalen Streitigkeiten um das letzte unabhängige Land in Nordafrika beteiligt. Diese riskante Außenpolitik führte letzten Endes direkt in den Ersten Weltkrieg.
Am 31. März 1905 empfing die marokkanische Hafenstadt Tanger hohen Besuch. An der Spitze eines Marine-Geschwaders ging Seine Majestät, der deutsche Kaiser Wilhelm II., mit großem Pomp an Land. An den Vertreter des Sultans richtete er folgende Ansprache:

"Mein Besuch gilt dem Sultan von Marokko, dem Chef eines unabhängigen Staates. Ich hoffe, dass ein freies Marokko unter seiner Souveränität offen bleibt für den friedlichen Wettstreit aller Nationen auf der Grundlage absoluter Gleichheit. Ich bin entschlossen, alles zu unternehmen, was in meinen Kräften steht, um die Interessen Deutschlands in Marokko wirkungsvoll zu verteidigen. Da der Sultan ein freier Mann ist, werde ich mich mit ihm auch über die geeigneten Mittel zur Wahrung seiner eigenen Interessen verständigen."

Das hörten die 100.000 Marokkaner gern, die zur Begrüßung des Kaisers nach Tanger gekommen waren, denn sie sahen in ihm ihren Beschützer vor dem zunehmenden französischen Einfluss auf ihr Land. Mit seinem provokativem Auftritt auf marokkanischem Boden – gewissermaßen auf französischem Terrain – wollte der Kaiser Frankreich warnen, seine Kontrolle über Marokko eigenmächtig auszuweiten. Damit war die so genannte erste Marokko-Krise offen ausgebrochen. Nach deutscher Auffassung konnte nur eine Konferenz aller an der Mittelmeerregion interessierten Nationen den französischen Einfluss auf Marokko und Nordafrika wirkungsvoll eindämmen. Denn, so Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow:

"Ich halte es für ausgeschlossen, dass eine internationale Konferenz beschließen könnte, Marokko unter die Herrschaft und in die Interessensphäre Frankreichs einzugliedern."

Die Krise eskalierte, als sich der französische Außenminister Théophile Delcassé den deutschen Plänen widersetzte. Aber seine Regierung hielt dem deutschen Druck nicht stand. Delcassé musste gehen, die Konferenz konnte einberufen werden. Sie trat Anfang 1906 in der südspanischen Hafenstadt Algeciras zusammen. Doch als sie am 7. April – heute vor 100 Jahren – endete, hatte sie eine überraschende Wendung genommen: Deutschland, der Motor der Konferenz, war isoliert. Die anderen hatten sich gegen seinen Willen geeinigt, Frankreich hatte sich mit Englands Hilfe weitgehend durchgesetzt. Marokko blieb nominell unabhängig, aber es wurde eine Polizeitruppe unter französischen und spanischen Offizieren geschaffen, und die Finanzen des Sultans wurden nun von der Banque de Paris kontrolliert. Italien erhielt in Libyen freie Hand, England in Ägypten. Deutschland ging leer aus.

Der eigentliche Verlierer war Marokko selbst. Sein Vertreter auf der Konferenz, der greise Hadj Mohammed Torrès, beklagte sich bitter:

"Wozu haben wir über so viele Jahre hinweg eine so intensive Politik betrieben, wozu haben wir uns jeder Form diplomatischer List und Finesse bedient, haben immer wieder Kompromisse geschlossen und Zugeständnisse gemacht und die Gegner der Unabhängigkeit unseres Landes zu spalten versucht, haben sie an die hehren Prinzipien von Freiheit und Gleichheit erinnert, die angeblich die Menschheit leiten – wenn wir am Ende doch nur eine verschleierte Sklaverei erhalten?"

Die Konferenz von Algeciras hatte die Probleme nicht gelöst – weder aus deutscher noch aus marokkanischer Sicht. So war die so genannte zweite Marokko-Krise eine zwangsläufige Folge der ersten, der sie in Thematik, Methode und Ergebnis ähnelte. Sie brach aus, als Frankreich – vorgeblich zum Schutz des Sultans vor aufständischen Stämmen – 1911 in Marokko einmarschierte und das halbe Land besetzte. Der Kaiser reagierte wieder mit einer spektakulären Drohgebärde: Er ließ das deutsche Kanonenboot "Panther" vor Agadir kreuzen. Wieder musste Paris anfangs einlenken und sich zurückziehen. Doch am Ende war Frankreich auch diesmal wieder erfolgreich – erfolgreich im Sinne seiner Kolonialpolitik: 1912 wurde Marokko offiziell französisch-spanisches Protektorat, Deutschland musste sich mit der Zusicherung zweier Streifen Land am Kongo zufrieden geben, die es noch dazu nie erhalten hat.

Sultan Moulay Abd el Hafidh war mit der rein formalen Unabhängigkeit seines Landes nicht einverstanden. Er dankte ab, nicht ohne den Europäern eine Lektion in marokkanischer Geschichte zu erteilen:

"Sehen Sie sich vor, meine Herren! Ich vertrete ein Volk, das niemals Kolonie war, das niemals unterworfen wurde oder in Knechtschaft lebte. Ich repräsentiere ein Reich, das seit Jahrhunderten unabhängig ist."

Doch seine Lektion verhallte ungehört. Wirklich unabhängig wurde Marokko erst wieder 1956.