"Verschiedene Gedächtnissysteme"

Hans Markowitsch im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.08.2009
"Es gibt nicht einfach das Gedächtnis, sondern es gibt verschiedene Gedächtnissysteme", sagt der Wissenschaftler Hans Markowitsch. Das anfälligste ist nach Meinung des Pychologen das autobiografische Gedächtnis.
Dieter Kassel: Hans Markowitsch ist Professor für physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld und beschäftigt sich schon seit Jahren und Jahrzehnten mit dem menschlichen Gedächtnis und vor allen Dingen damit, was eigentlich da genau passiert, wenn es nicht mehr funktioniert. Er sitzt jetzt für uns in Bielefeld im Studio. Schönen guten Tag, Herr Markowitsch!

Hans Markowitsch: Guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Nehmen wir konkret doch noch mal den Fall Overfeld, weil wir das gerade alles noch mal gehört haben, was da passiert ist: Wenn jemand wie dieser Mann plötzlich kein Gedächtnis mehr hat, was genau muss denn da im Gehirn passiert sein?

Markowitsch: So ganz kann man’s heute auch noch nicht erklären. Unsere Annahme ist, dass Erinnerung und insbesondere persönliche Erinnerung verlangt, dass es zu einer synchronen Aktivierung kommt von faktenbezogenen Wissensinhalten und deren emotionaler Bewertung. Und wenn jetzt besondere Stresssituationen, psychische Traumaereignisse und Ähnliches auftreten, dann kann es, wie der Fachausdruck heißt, zu sogenannten Dissoziationen kommen, das heißt zu einem Auseinanderlaufen zwischen der emotionalen und der Faktenebene. Man kriegt nicht mehr beides synchron zusammen, und deswegen erinnert man sich möglicherweise oder relativ wahrscheinlich an einzelne Fakten, weiß, was ein Tisch, was ein Stuhl ist, aber weiß eben nichts mehr über sich selbst. Das ist irgendwie verkapselt im Gehirn noch vorhanden, aber man hat eben keinen Zugang mehr.

Kassel: Wenn wir noch mal den konkreten Fall Jonathan Overfeld nehmen und mal den Unterschied bitte betrachten zwischen Grund und Anlass: Ich denke, der Grund für seinen Gedächtnisverlust sind diese schrecklichen Erlebnisse in Kindheit und Jugend, aber das Ganze ist ja bei ihm – und ich glaube, ich habe Sie so verstanden, das ist auch nicht untypisch – relativ plötzlich passiert. Was für ein Anlass muss denn dann dazukommen, damit es zu so einem Gedächtnisverlust kommt?

Markowitsch: Der Anlass, der kann häufig recht banal sein, der kann darin bestehen, dass irgendwas schiefläuft, körperlich oder seelisch. Also, wir haben mehrere Patienten gehabt, die einfach irgendwie gestolpert, die Treppe runtergefallen sind, ohne eine Hirnverletzung zu haben. Das heißt, die Anlässe sind häufig gar nicht so tiefschürfend, tiefgehend wie das dahinterstehende Krankheitsbild, was eben häufig den Verlust der gesamten oder doch größerer Teile der persönlichen Erinnerung betrifft.

Kassel: Wie gehen denn Menschen, denen so was passiert, mit diesem Moment um? In dem Beitrag klang das gerade so, als hätte Jonathan Overfeld in Hamburg plötzlich kein Gedächtnis mehr gehabt, und dann ist er erst mal einen Kaffee trinken gegangen. Das klingt ja relativ gelassen. Ich vermute mal, so war’s in Wirklichkeit denn doch nicht. Was für eine Art von Schock ist das denn, wenn ein Mensch plötzlich nicht mehr weiß, wer er war und wer er ist?

Markowitsch: Na ja, also es ist im Grunde für derartige Menschen schon ein sehr tiefgehender Verlust, auf der anderen Seite – und das ist auch, was wir häufig finden – wird das Ganze nicht in der Intensität wahrgenommen. Das hat schon ein Nervenarzt vor gut 100 Jahren als "belle indifference" beschrieben, dass die Patienten eher sehr gleichgültig ihrem Gedächtnisverlust gegenüberstehen, zumindest den nicht so in seiner Gänze und in seinem Tiefgang erfassen. Natürlich sind die Patienten betroffen, dass sie so gar nicht mehr wissen, was mit ihnen ist, aber sie sind es nicht so, wie man als Außenstehender vermuten würde, wenn man sich selbst vorstellt, wie wäre das, wenn ich jetzt absolut keine Erinnerung mehr hätte, wenn ich nicht wüsste, was würde ich in der oder in jener Situation mit meiner Partnerin tun, würde ich die jetzt küssen, umarmen oder wäre ich da ganz still und neutral. Das heißt, da gibt’s einen Unterschied zwischen der Wahrnehmung, wie wir sie als gedächtnisgesunde Allgemeinpersonen haben und wie die Patienten sie haben.

Kassel: Wenn zum Beispiel das, was Sie gesagt haben, wie umarme ich meine Partnerin oder auch irgendeinen Menschen nur, wie reagiere ich auf gewisse Ereignisse, wenn das eben auch verschwunden ist mit der Amnesie, wie kommt es zurück? Ist das quasi ein Lernen wie bei einem Kind oder ist das ein Wiedererarbeiten dessen, was man schon mal konnte?

Markowitsch: Da muss man ein bisschen differenzieren. Es gibt Dinge, die kommen recht automatisch zurück, und es gibt anderes, was wirklich mehr oder minder neu angelernt wird. Und das hängt damit zusammen, dass wir sagen: Es gibt nicht einfach das Gedächtnis, sondern es gibt verschiedene Gedächtnissysteme und da sind manche Systeme, die relativ autark, autonom, automatisch funktionieren. Also beispielsweise sprechen wir da von dem prozeduralen Gedächtnis, Gedächtnis für motorische Fertigkeiten. Jeder weiß, wie er mit dem Fahrrad losfährt, oder wenn er früher Ski gefahren ist, kann er sich wieder auf die Ski stellen und losfahren. Also das ist so ein automatisches Gedächtnis.
Dann gibt es so ein System, was mit Bekanntheit, Familiarität zu tun hat, dass einem Dinge bekannt vorkommen, dass man auch weiß, die Person, die will nichts Schlechtes von einem, die ist mir eher freundlich gesinnt, also da gibt es so, so Urbeziehungen, die nicht bewusst sich gemacht werden.
Und der dritte große Bereich von Gedächtnis ist das, was wir das autobiografische Erinnern nennen. Und das ist, wie gesagt, das komplexeste, was dann auch am ehesten anfällig ist gegenüber Stressereignissen, gegenüber Hirnschäden. Das ist deswegen immer am anfälligsten, weil da Emotion und Kognition gekoppelt synchronisiert werden muss. Und die Koppelung, die verlangt auf Hirnebene eine sehr feine Abstimmung, so eine Art Tuning zwischen verschiedenen Hirnregionen.
Und wenn dieses empfindliche System gestört ist, dann kommt es eben zu dem, was wir Gedächtnisblockierungen oder Gedächtnisblockaden nennen, wo eben die persönlichen Erinnerungen nicht mehr aktiviert werden können, während Neutrales, also was Tisch, Stuhl, Bett bedeutet, durchaus noch frei assoziiert werden kann.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem Gedächtnisforscher Hans Markowitsch, und wir haben, Herr Markowitsch, ja – auch wenn das meiste, was Sie erklärt haben, im Prinzip ja für alle Menschen gilt –, aber wir haben ja nun wegen des Beispiels Jonathan Overfeld über Amnesie, über diesen grandiosen Zwischenfall gesprochen. Reden wir mal über das normale Vergessen. Wenn ich jetzt zum Beispiel nicht mehr weiß – und ich glaube, ich weiß es nicht, was ich vor zwölf Tagen abends getan habe, das ist ja völlig normal – ist es eigentlich dann vergleichbar, dass auch das in meinem Gehirn irgendwo noch ist, ist absolut alles gespeichert, was ich je erlebt habe, nur an vieles komme ich nicht mehr dran, oder sind diese mehr oder weniger banalen Dinge dann wirklich weg?

Markowitsch: Man weiß es noch nicht ganz sicher, wir gehen aber davon aus, dass das meiste doch irgendwo noch im Gehirn gespeichert ist. Und Begründung, warum das meiste doch irgendwo noch da ist, ist darin zu finden, dass beispielsweise unter Hypnose dann Erinnerungen wiederkommen, dass mit bestimmten Techniken auch Erinnerungen reproduzierbar sind, die verloren geglaubt waren. Das heißt, unterm Strich sagen wir: Sehr, sehr vieles ist einfach noch im Kopf da, nur der Zugang, der ist nicht jederzeit möglich.

Kassel: Hans Markowitsch, Professor für physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld über den Gedächtnisverlust.