"Verscherbelt nicht eure städtischen Einrichtungen"

Christian Ude im Gespräch mit Joachim Scholl · 19.11.2008
Der Oberbürgermeister von München und Präsident des Deutschen Städtetages, Christian Ude, hat die Privatisierung städtischer Einrichtungen kritisiert. Wer mit schnellen Verkäufen seinen Haushalt in Ordnung bringen wolle, gebe zugleich Gestaltungsmöglichkeiten aus der Hand, warnte Ude.
Joachim Scholl: Vor 200 Jahren wurde die Preußische Städteordnung verkündet, ein Kernstück jener historisch so bedeutsamen Reform von Stein und Hardenberg. Damit begann die kommunale Selbstverwaltung, die in Deutschland besonders ausgeprägt ist. Am Telefon begrüße ich jetzt Christian Ude, den Oberbürgermeister von München. Guten Tag, Herr Ude!

Christian Ude: Ja, Grüß Gott!

Scholl: Der Begriff kommunale Selbstverwaltung, Herr Ude, geht uns genauso flüssig über die Lippen, wie wir es für selbstverständlich halten, dass sich Gemeinden und Städte selbst verwalten. Hat man eigentlich im alltäglichen Betrieb einer Kommune noch das Bewusstsein, dass diese kommunale Selbstverwaltung ein demokratischer Gewinn, eine Errungenschaft ist?

Ude: Wir, die wir in den Kommunen arbeiten, haben selbstverständlich dieses Bewusstsein. Und ich denke, dass auch die Bürger, die vielleicht nicht immer gleich mit komplizierten Fachbegriffen um sich werfen, auch das Bedürfnis haben, dass örtliche Angelegenheiten vor Ort entschieden werden und dass sie das Rechtsgefühl haben, dass die eigene Kommune auch in der Lage sein muss, die örtlichen Angelegenheiten selber zu regeln.

Das ist ja die Ebene, die der Bürgerschaft am nächsten ist. Da kann der Bürger und die Bürgerin dem verantwortlichen Politiker noch in der Straßenbahn begegnen oder bei Bürgerversammlungen oder sich mit Briefen ans Rathaus wenden und postwendend eine Antwort bekommen. Das ist ja alles bei den höheren Ebenen, die schon ziemlich entschweben aus der Sicht des Bürgers, nicht mehr der Fall.

Scholl: Ist dieses Prinzip kommunaler Selbstverwaltung eigentlich auf allen Ebenen der Politik in Deutschland akzeptiert? Man spricht ja auch immer von den sogenannten Begehrlichkeiten des Bundes etwa.

Ude: Der Bund ist im Moment nicht einmal das Schlimmste, Rivale um Kompetenzen und Zuständigkeiten, sondern eher die Länder. Lassen Sie mich Beispiele nennen. Der Bund hatte uns eingeladen zum Krippengipfel, weil man die Kinderbetreuung ohne die Kommunen nicht verbessern kann. Er hat auch die Gewerbesteuer wieder verbessert und gestärkt, ohne die Kommunen überhaupt nichts tun können, weil ihnen finanziell die Luft ausgehen würde.

Ganz anders die Länder, die eigentlich ja Anwälte ihrer Kommunen sein müssten, die haben beim Gipfel zum Bildungsthema darauf bestanden, dass die Kommunen nicht eingeladen werden. Und so kam ein grotesker Bildungsgipfel zustande, bei dem man über Kinderbetreuung gesprochen hat und über Nachmittagsangebote und Erwachsenenbildung. Und die Kommunen, die all diese Themen bearbeiten, sitzen nicht mit dabei. Es gibt leider immer wieder Rückfälle der staatlichen Ebene in das Bewusstsein, wir lassen uns nicht um unsere Kompetenzen bringen, wir müssen die Kommunen rausboxen.

Scholl: Nun hören wir derzeit davon, dass Gemeinden, kommunale Einrichtungen wie etwa die Wasserbetriebe an internationale Investoren verkaufen. Es gibt Städte, die haben auf den Finanzmärkten spekuliert. Sind das nicht Entwicklungen, Herr Ude, die den demokratischen Grundgedanken kommunaler Selbstverwaltung konterkarieren, vielleicht das ganze System gefährden?

Ude: Selbstverständlich. Deswegen warne ich auch davor, als Städtetagspräsident muss ich natürlich das Selbstverwaltungsrecht jeder einzelnen Stadt respektieren und kann es deshalb nicht rügen, wenn eine einzelne Stadt sich entscheidet, die Stadtwerke zu verkaufen oder gar die Wasserversorgung oder Wohnungsbestände.

Aber als Mensch mit politischen Erfahrungen und Überzeugungen kann ich davor warnen, verscherbelt nicht eure städtischen Einrichtungen. Wenn ihr keine Stadtwerke mehr habt, könnt ihr nichts mehr tun für erneuerbare Energien. Wenn ihr keine Krankenhäuser mehr habt, könnt ihr keine Gesundheitspolitik vor Ort treiben.

Wenn ihr keine Wohnungen mehr habt, dann könnt ihr nicht nur Schwierigkeiten haben, untere Einkommensgruppen zu versorgen, sondern dann habt ihr auch jede Möglichkeit verloren, neue Wohnformen zu probieren, etwa ökologische Bauweise oder Energiesparhäuser oder Wohngemeinschaften für ältere Menschen. Das heißt, mit jedem Verkauf wird die Kommune ohnmächtiger und das sollte man bedenken, wenn man schnellem Verkaufen von kommunalen Einrichtungen den Haushalt in Ordnung bringen will.

Scholl: Was passiert denn eigentlich ganz praktisch, wenn eine Gemeinde, eine Stadt Pleite geht nach einer Fehlspekulation etwa?

Ude: Ja, den Fall kann es aus juristischen Gründen nicht geben, weil das jeweilige Bundesland dann in die Haftung eintritt, im bürgerlichen Sinne kann es einen Konkurs einer Gemeinde nicht geben. Allerdings kann der Fall eintreten, dass eine Kommune in ihrer Finanznot nicht mehr in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen, nicht einmal die gesetzlichen Pflichtaufgaben.

Und in der Situation waren wir schon einmal fast 2002, als entsetzliche Einbrüche bei der Gewerbesteuer zu beklagen waren. Und deswegen habe ich damals gesagt, sogar München ist pleite. Ich hab damit nicht gemeint, konkursreif im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern ich habe gemeint, nicht mehr in der Lage, die gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen.

Scholl: Die kommunale Selbstverwaltung. Heute auf den Tag ist sie 200 Jahre alt und im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist Münchens Oberbürgermeister Christian Ude. Herr Ude, inwieweit ist die kommunale Selbstverwaltung eine deutsche Besonderheit? Wie halten es andere europäische Länder damit?

Ude: Sie ist eine Besonderheit, und das hat tatsächlich sehr viel zu tun mit dem heutigen Erinnerungstag. Der Freiherr von Stein hat in Preußen genau vor 200 Jahren die kommunale Selbstverwaltung eingeführt in der Preußischen Städteordnung von 1808. Und damit war Deutschland den anderen europäischen Ländern weit voraus.

Und im Grundgesetz ist sogar die kommunale Selbstverwaltung mit einem eigenen Artikel bedacht worden und in vielen Länderverfassungen ebenfalls. Das ist so eine Antwort auf den Nationalsozialismus gewesen, wo ja Zentralisierung und Gleichschaltung ein Mittel des totalitären Staates war. Deswegen wollte man beim demokratischen Wiederaufbau jede Art von Zentralisierung und Gleichschaltung verhindern und neben den Bundesländern auch die Kommunen stärken.

Und damit sind wir europaweit in einer Spitzenposition. Österreich ist noch sehr ähnlich. Aber wenn ich mir die Befugnisse des Bürgermeisters von London anschaue oder auch derer von Paris und Rom, dann kommen mir fast die Tränen, wie wenig die Kollegen zu sagen haben. Da ist eben die Selbstverwaltung nicht so ausgeprägt und rechtlich geschützt, verfassungspolitisch geschützt wie bei uns. Und auch die kommunale Daseinsvorsorge im deutschen oder österreichischen Sinne kennt man dort nicht.

Scholl: Und dass diese Reform vor 200 Jahren von Preußen ausging, schmerzt Sie als Bayer nicht?

Ude: Nein. Ich habe beim letzten Fest zu Ehren des Freiherrn von Stein gesagt, es ist doch wunderbar, dass es auch einen Preußen gibt, vor dem wir Bayern den Hut ziehen und bei dem wir sogar Dank empfinden. Das kann doch sehr zur Aussöhnung von Bayern und Preußen beitragen, dass wir einen großen Preußen zu feiern haben.

Scholl: Wie blicken Sie, Christian Ude, in die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung? Wie wird sie aussehen?

Ude: Ich denke, dass die schlimmste Welle von Privatisierungseuphorie vorbei ist. Man hat ja in jeder Wirtschaftsredaktion und auf jeder Tagung und in jeder Fernsehtalkshow jahrelang den Unfug hören müssen, der Staat solle sich aus allem zurückziehen, die kommunale Daseinsvorsorge sei auch schlecht. Man müsse alles privatisieren und unter die Aufsicht der internationalen Finanzmärkte stellen, weil die völlig unfehlbar seien in ihrem nüchternen ökonomischen Kalkül. Und inzwischen wissen wir, auf schmerzhafte Weise haben wir es erfahren, dass dies ein einziger Irrweg war.

Wir haben auf die Weise örtlichen Einfluss verloren, auf Unternehmen, die privatisiert worden sind. Wir haben Konzernbildungen erlebt mit Zentralen im Ausland, die wir gar nicht erreichen können. Und wir erleben jetzt, wie irrational die internationalen Finanzmärkte agieren, und hier wurden Milliarden versenkt. Und jetzt ist so die Stunde der Ernüchterung. Vielleicht ist es doch besser, altmodisch zu bleiben, nicht jede Modeerscheinung hysterisch mitzumachen, sondern an der guten alten, 100 Jahre alten kommunalen Daseinsvorsorge festhalten und auch die 200 Jahre alte Idee der kommunalen Selbstverwaltung stärken.

Scholl: 200 Jahre kommunale Selbstverwaltung. Über ihre Gegenwart und Zukunft war das Christian Ude, der Oberbürgermeister von München, Präsident des Deutschen Städtetages. Einen schönen Tag Ihnen noch!

Ude: Ja, vielen herzlichen Dank!
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