"Verraten" von Ha Jin

Thriller mit Spannungsproblem

Eine Frau schaut durch ein Schlüsselloch.
Spionage: Kann offenbar auch langweilig sein © picture alliance / dpa
Von Katharina Borchardt · 23.06.2015
Der Protagonist im neuen Roman des chinesisch-amerikanischen Schriftstellers Ha Jin ist ein Spion. Echte Spannung kommt deswegen aber leider nicht auf. Stattdessen erfährt der Leser viel über chinesische Geschichte.
Er soll einer der wichtigsten Spione gewesen sein, die die Volksrepublik China je in die CIA eingeschleust hat. Gary Shang ist der Name dieses fiktiven Spions, den der Autor Ha Jin in seinem neuen Roman "Verraten" bereits im Jahr 1949 für die CIA als Übersetzer tätig werden lässt.
Thriller-Qualitäten entwickelt der Roman dabei leider nicht, behauptet der Autor doch lediglich, dass Gary mit den Jahren immer brisantere Dokumente zu Gesicht bekommt, vor allem seit er die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Ha Jin setzt Garys Entdeckungen weder in Szene noch nutzt er sie für den Spannungsaufbau. Er lässt ihn die Texte nur abfotografieren und seinem Verbindungsoffizier in Hongkong übermitteln.
Beherrschend für den Roman ist die Sehnsucht des Spions
Beherrschend ist stattdessen Garys Sehnsucht nach seiner Heimat und seiner Familie, die er in China zurücklassen musste. Sein Pflichtbewusstsein aber wiegt schwerer als jeder private Wunsch. Schließlich heiratet er eine Amerikanerin und gründet eine neue Familie. Sein Heimweh weiß er zu verbergen, und so zeichnet Ha Jin seinen Protagonisten als zutiefst zerrissenen und größeren politischen Mächten ausgelieferten Menschen.
Hier mag sich der Autor selbst ein wenig in Gary gesehen haben. Ha Jin kam in den 1980er Jahren zum Studieren in die USA und kehrte nach dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens nicht mehr nach China zurück. Inzwischen ist er amerikanischer Staatsbürger und schreibt seine Romane, für die er etliche renommierte Preise erhielt, auf Englisch.
Sein Heimatland spielt in seinen Romanen jedoch stets eine große Rolle. Meist spielen sie in kritischen Momenten der jüngeren chinesischen Geschichte.
Der Roman bietet viel Historisches - zu viel
Auch in "Verraten" fährt Ha Jin wieder viel Historisches auf – dieses Mal jedoch leider zu viel. Seine seitenlangen Referate zur chinesischen Zeitgeschichte begründet der Autor erzähltechnisch damit, dass Garys amerikanische Tochter Lilian Historikerin ist. Sie lehrt "Geschichte Asiens" an der Universität und geht für ein Gastsemester nach Peking.
Dort nutzt sie die Gelegenheit, um Nachforschungen über ihren Vater anzustellen, der 1980 enttarnt wurde, und um mit dessen erster Familie Kontakt aufzunehmen. Ihre aus der Ich-Perspektive erzählten Erfahrungen in China und die von einem allwissenden Erzähler – womöglich soll dies Lilian selbst sein – vermittelte Lebensgeschichte ihres Vaters wechseln sich auf uninspirierte Weise ab. Denn sowohl Lilian als auch Gary bleiben kaum individuell gestaltete Figuren, die sich völlig vorhersehbar durch das historische Tableau der allseits bekannten jüngeren chinesischen Geschichte bewegen.
Irgendwann tritt auch noch Garys Enkel Ben auf, der sich ebenfalls als Spion in den USA versucht. Fühlte sich sein Großvater noch ganz und gar seinem Land verpflichtet, fordert Ben für sich persönliche Freiheit ein, die sich allerdings bloß in einem biedermeierlich anmutenden Bekenntnis zur Kleinfamilie ausdrückt.
Susanne Hornfeck hat den Roman versiert übersetzt. Ihre sprachlich gewandte deutsche Fassung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Geschichte ein handfestes Spannungsproblem hat.

Ha Jin: "Verraten"
Arche-Verlag, Hamburg/Zürich 2015
368 Seiten, 22,99 Euro

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