Verrätselte Performances

Von Gerd Brendel · 24.02.2012
Seit fast neun Jahren kocht an vier Tagen im Februar die freie Theaterszene der Hauptstadt über. So auf jeden Fall wollen es die Organisatoren des "100 Grad Festivals". Was dieses Jahr geboten wurde, war jedoch eher lauwarme Kost mit gelegentlichen Hitzewallungen.
"Ich mag total, dass man in den Theaterraum geht, überhaupt nicht weiß, was passiert und spätestens nach der fünften Inszenierung hat man was gesehen, was super war!"

Matthias Lilienthal, Chef des HAUs, einem der beiden Spielstätten, verbreitete in seiner Eröffnungsrede gestern Abend Optimismus: Bei 160 Gruppen an vier Festivaltagen und -nächten würde so ein regelmäßig wiederkehrendes Aha-Erlebnis eine enorme ästhetische Ausbeute bedeuten.

In den letzten Jahren gab es steppende Rentner und exerzierende Rekruten zu sehen. Manche Gruppe, die heute Off-Theatersäle füllt, erhielt hier die Feuertaufe. Für alle gelten die gleichen Rahmenbedingungen: maximal eine halbe Stunde Vorbereitungszeit für das Einrichten der Bühne, maximal eine Stunde Aufführung. Am Ende gibt es einen Preis für das Stück mit den meisten Zuschauerstimmen.

"Das '100 Grad' stellt zur Debatte, was ist totaler Dilettantismus und was ist Genie … "

… sagt Dorothea Schmantz von den Sophiensälen.

"Letztendlich sind wir auf unser eigenes Empfinden zurückgeworfen."

Und das wird gleich in der allerersten Vorstellung gefordert. Die aus Israel stammende Künstlerin Sharon Paz präsentiert zweidimensionales Parabeltheater - wortwörtlich: Von hinten wird ein Schattenspiel gegen eine Leinwand projiziert. Traumschöne Bilder erzählen die Geschichte eines blinden Königs, der durch sein geknechtetes Land zieht. In einer Szene knien Schatten zum Gebet nieder, in der nächsten recken wütende Schatten die Fäuste. Geschickt ergänzen reale Schauspieler die Schattenwelten. Trotzdem ist mir der Schluss in den Traumbildern abhanden gekommen.

Ähnlich verrätselt erlebe ich dann auch die nächste Performance: Ein lebendes Stoffknäuel wird im Zeitlupentempo mit allerlei blinkenden Lichtern als Hofdame erst an- und dann wieder ausgezogen. "Der zerlegbare Körper soll das innere Drama einer Gesellschaft widerspiegeln", heißt es im Programmheft dazu. Mein inneres Langeweile- Drama löse ich mit Saalflucht zur nächsten Performance:

"Ich wollte einen Abend mal 'ne richtige Heldin sein, ich hab so viel geprobt.. Hab die ganzen Puppen ausgeschnitten, die Blinklichter gekauft. Ich hab mich so sehr auf den Applaus gefreut."

Für ein Ein-Personen-Schultheaterstück über Theaterheldinnen, von Penthesilea bis Gretchen? Auch das lehrt das Festival: Irgendjemandem gefällt's immer. Die Stücke, in denen die Darsteller und Darstellerinnen über ihre eigene Rolle reflektierten, gefielen mir am besten.

In der nächsten Performance leidet eine Darstellerin namens Bori Szente lustvoll und sehr "bühnenpräsent" unter ihrem Ost-Europa-Charisma, bevor sie sich ihr Persönlichkeits-Trägerkleid auszieht. Auf Augenhöhe mit ihren nackten Brüsten erlebe ich endlich den von Intendant Lilienthal versprochenen "100-Grad-Supermoment". Dann erzählt sie zum Brüllen komisch von ihrer Karriere als Nacktmodell in Berlin und drückt der ersten Reihe Wasserspritzpistolen in die Hand.

"Meine Damen und Herren, shoot me! I mean it! Shoot it! come on…!"

… fordert sie ihr Publikum auf. Ein Dutzend kleiner Wasserstrahlen klatschen auf ihre bloße Haut. So schön kann es sein, in der Gunst des Publikums zu baden.

Vier Aufführungen, drei Kaffees und zwei Kuchenstückchen später öffnen sich die Türen zur letzten Performance: Ein Plakat mit der Aufforderung zum Rauchen verheißt Zügellosigkeit, der Titel auch: "Heterosexuelle Pleitejungs" steht auf dem Programm. Die sitzen unter einem Altkleiderberg auf einem Podest und werden von einer Domina zu schwulem Sex gegen Geld überredet:

Die Idee hat der Regisseur, der so aussieht oder besser so aussehen will wie der junge Fassbinder, von einer Pornowebseite geklaut, auf der sich angeblich heterosexuelle Jungmänner betätigen.

"Würden Sie sich entjungfern lassen? Ja, als Mann? Für wie viel Geld würden Sie sich entjungfern lassen?"

Die Frage der Domina an das Publikum bleibt unbeantwortet. Kein Wunder, denn von den beiden Top-Darstellern sieht man bis zum Schluss nur die nackten Oberkörper.

In den Pappkarton für den Publikumpreis werfe ich heimlich vier Wahlzettel: Einen für den Möchtegern-Fassbinder und drei für das ungarische Aktmodell. Schon aus Eigennutz: Die Festival-Gewinnerin bekommt nämlich eine abendfüllende Performance finanziert.