Verräter und Geduldete

19.09.2012
Spurensuche in der "finsteren" Biografie einer Familie: Mit ihrem eindringlichen Roman erzählt Lindita Arapi von drei Generationen albanischer Frauen und dem Aderlass einer Nation, die nur schwer den Weg in die unbekannte Freiheit fand.
Albanien, zur Zeit des Kommunismus. Die kleine namenlose Stadt D. gilt als eine mustergültige sozialistische Gemeinde, die ihre Pflichten besonders ernst nimmt. In keiner anderen Stadt nämlich gehören Bespitzelungen und Verurteilungen so sehr zur Tagesordnung. Allabendlich lauscht die kleine zehnjährige Lodja Lemani vom Küchenfenster aus den Frauen, die in der Gasse zusammenkommen und tratschen: wer für die Staatsmacht spioniert, wer besonders linientreu ist, wer heimlich Hühner hält. Die einzige Frau, die zu Hause bleibt, ist Lodjas Mutter.

Auch Lodja darf das kleine Haus der Eltern nicht verlassen; sogar der abendliche Giro, ein Sehen und Gesehenwerden, ist für sie tabu. Schon lange fragt sich Lodja, warum das so ist. Bis ihre Mutter sie eines Tages darüber aufklärt, warum die Familie so unbeliebt ist. Die Familie habe eine "finstere" Biografie; Lodjas Großvater, einst ein reicher Großbauer, widersetzte sich dem Kommunismus und wurde als Brigant gehenkt. Seitdem gelten die Lemanis als Verräter und Geduldete, mit denen die übrigen Bewohner der Stadt jeden Kontakt meiden. Lodja begreift: Ihre ganze Zukunft hängt von der Vergangenheit ab. Und: Fortan erscheint ihr jede Nacht das Gespenst eines ihr unbekannten Mannes. Jahre später – Lodja ist 26 und hat als Postgraduierte einen Studienplatz in Belgien erhalten – beschließt sie, in ihre Heimat zurückzukehren und sich auf Spurensuche zu begeben.

Von dieser Spurensuche ausgehend, die Lodja bis in die dörfliche Welt führt, nimmt die Schriftstellerin Lindita Arapi – 1972 selbst in Albanien geboren – auch uns mit auf eine Reise: Diese Reise umspannt die Zeit, als Albanien Anfang der 40er-Jahre noch Widerstand gegen die faschistischen Besatzer leistete, die kommunistischen Jahre, bis in die Gegenwart hinein. Drei Generationen von Frauen stehen dabei im Vordergrund: Lodja, ihre Mutter Drita, die Großmutter Fatime. Anhand ihrer in Rückblende erzählten Lebensgeschichten schildert Arapi uns eine Kultur, in der das Brauchtum ein "schweigendes Regiment" führt; die Sippe mehr zählt als das Individuum und ein Mann mehr als eine Frau. Zugleich zeigt sie uns ein Land im Umbruch: hier das schwierige Ringen der jüngeren Generation mit den überkommenen, aber tief sitzenden Traditionen der älteren Generation; dort der Aderlass einer Nation, die mit dem Niedergang des Sozialismus auch ökonomisch nur schwer den Weg in die unbekannte Freiheit fand.

Vor allem aber appelliert Arapi mit ihrem Roman an ihre Landsleute, endlich zu verzeihen – und das heißt: sich endlich, wie Lodja, der eigenen Geschichte zu stellen. Denn nur wer sich erinnert, kann vergessen, sprich: verzeihen. Und nur dem, der verzeihen kann, steht die Zukunft, wie am Ende auch Lodja, offen. Insofern befindet sich Albanien – wo die Blutrache noch immer Bestandteil zumindest der dörflichen Strukturen ist – erst am Anfang seines langen Wegs. Davon erzählt Arapi, in Albanien "Schriftstellerin des Jahres" 2011, mit "Schlüsselmädchen" in so eindringlichen wie leisen Bildern.

Besprochen von Claudia Kramatschek

Lindita Arapi: Schlüsselmädchen. Roman
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm
Dittrich Verlag, Berlin 2012
206 Seiten, 19,80 Euro
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