Verlorene Zeiten für das 21. Jahrhundert

01.10.2013
Mit einer Neuübersetzung von Marcel Prousts Meisterwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", hat sich der Reclam-Verlag an eines der ambitioniertesten publizistischen Projekte der letzten Jahrzehnte gemacht. Übersetzer Bernd-Jürgen Fischer gelingt eine moderne Interpretation des französischen Originals.
Warum eine neue Übersetzung von Marcel Prousts großem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"? Weil jede Übersetzung auch eine (ihrer eigenen Zeit verpflichtete) Interpretation ist und keine Interpretation ein derart poetisches und komplexes Meisterwerk gänzlich erschöpfen kann.

Bereits 1922 – dem Todesjahr Prousts (* 1871) – startete der erste Versuch, Proust ins Deutsche übersetzen zu lassen. Er gedieh nur bis zum dritten Band. Erst in den Fünfzigerjahren erschien die erste vollständige Übertragung von Eva Rechel-Mertens, die den Satzbau des Französischen beibehält, aber durch zeittypische sprachliche Umständlichkeiten den Text zuweilen schwerfällig macht. Diese Version wurde dreißig Jahre später von Luzius Keller und Sibylla Laemmel erfolgreich revidiert. Und nun wagt der Reclam-Verlag eine Neuübersetzung, deren erster Band gerade erschienen ist - genau 100 Jahre nach der Publikation des ersten Bandes auf Französisch.

"Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen" zählt zu den berühmtesten ersten Sätzen der europäischen Romanliteratur. In schlaflosen Nächten vertieft sich der Ich-Erzähler in Erinnerungen an sein Leben. Diese 16 Seiten umfassende Ouvertüre enthält alle Motive und Themen des Romans und den Kern einer Theorie des Erinnerns und der unablässigen Veränderung des Individuums, die sich erst am Ende der mehreren Tausend Seiten vollendet.
Der gesamte Roman erzählt das Leben "Marcels" chronologisch, aber zeitlich gerafft so, wie es sich rückblickend präsentiert. Im dreigeteilten ersten Band sind es die Sommer, die Marcel als Kind bei Verwandten auf dem Land verbracht hat ("Combray"). Ungeheuer präzise, oft sogar komisch, werden die Menschen mit ihren Eigenarten und Schrulligkeiten beschrieben. Der hochsensible Knabe beobachtet die Menschen und ihre Rituale, erkundet die Natur, die geschichtsträchtigen Bauwerke der Region - und die eigenen Gefühle. Nichts ist für ihn schlimmer, als wenn die Mutter ihm den gewohnten Gutenachtkuss verweigert, weil Besuch da ist. Prousts mit diesen Kindheitsszenen beginnende Analyse des Zusammenhangs von Liebe, Abhängigkeit, Angst und Eifersucht gehört zum Besten, was je darüber geschrieben wurde. Sie bildet auch den Kern der Liebesgeschichte von Charles Swann und der Kurtisane Odette de Crécy ("Eine Liebe von Swann"), die spätere Erfahrungen Marcels vorwegnimmt. Im kurzen dritten Teil ("Ländliche Namen") beginnt die Beziehung des mittlerweile halbwüchsigen Erzählers mit Swanns kapriziöser Tochter Gilberte in Paris.

Die neue Übersetzung liest sich flüssig und so modern, wie es dem Original angemessen ist. Die hochkomplexe, aber völlig klare Syntax Prousts, die mit einer Fülle von Einschüben in einem einzigen Satz sämtliche Facetten und Widersprüche eines Ereignisses, einer Erfahrung oder eines Gefühls zu vermitteln vermag, ist beibehalten; die Semantik ist modernisiert und trifft das Original präzise. Anmerkungen sowie stichwortartige Zusammenfassungen der Kapitel sind sehr hilfreich. Alles in allem ein gelungener Auftakt für ein großes Unternehmen.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 1: Auf dem Weg zu Swann
Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer
Reclam, Stuttgart 2013
694 Seiten, 29,95 Euro