Verloren im Transit

30 Stunden auf dem Flughafen Schiphol

Flughafenhalle in Amsterdam bei Nacht
Flughafenhalle in Amsterdam bei Nacht © Deutschlandradio / Julius Stucke
Von Julius Stucke · 03.04.2015
Der Amsterdamer Flughafen bewältigt jedes Jahr mehr als 50 Millionen Fluggäste. Unser Reporter ist gekommen, um 30 Stunden zu bleiben, und einige von ihnen zu interviewen: Weltenbummler, Flüchtlinge, Banker, First-Class-Touristen. Aber es ist ganz anders gekommen.
Das Ende dieser Geschichte rückt näher. Endlich! Warum bin ich hier? In diesem Moment nur aus einem Grund: Um wieder zu gehen. Eine Reportage lebt davon, dass etwas geschieht. Dass man interessante Menschen trifft. Eine Überraschung die nächste jagt. In dieser Geschichte gibt es nur einen Gejagten: den Reporter. Mich.
"Wir bedanken uns für Ihr Verständnis, bitte verbleiben Sie im Wartebereich und warten Sie auf die nächsten Ansagen.“"
Zurück an den Anfang. Meine Reise beginnt am Samstagvormittag am provinziellsten Flughafen, den eine Millionenmetropole je gesehen hat: Berlin Tegel. Die Eckkneipe unter den Flughäfen. Draußen kämpft sich die Sonne erfolgreich durch die diesige Morgenluft. Drinnen kämpfe ich mit Müdigkeit und hole mir einen Kaffee. Die Verkäuferin fragt nach meinem Namen – ich spare mir die Frage 'warum eigentlich?', antworte müde nuschelnd und beobachte, wie sie „Julius“ auf den Pappbecher kritzelt.
"Good morning Ladies and Gentlemen – on behalf of the Captain…"
Mein Flug bringt mich Richtung Amsterdam. An den Flughafen Schiphol. Mehr als 50 Millionen Menschen steuern dieses Ziel pro Jahr an. Mehrere hunderttausend Flugzeuge. Ein gigantisches, internationales Drehkreuz. Da will ich hin. Als Reporter ein Wochenende in den Transitbereich reisen. Dort bleiben und Geschichten einsammeln: Von Sehnsucht und Fernweh. Von Weltenbummlern. Von Heimatlosen im Transit. Von Flughafenangestellten, die täglich tausende von Menschen kommen und gehen sehen. Von Touristen, Geschäftsleuten, Flüchtlingen– alle konzentriert an einem Ort - und vielleicht die eine, hier gestrandete Person, die nicht weg kann. Soweit der Reporterplan.
Langweilige Mischung aus Wochenendtouristen, Geschäftsreisenden, Pendlern
In meinem Flugzeug aus Berlin sitzt eine ziemlich langweilige Mischung aus Wochenendtouristen, Geschäftsreisenden, Pendlern. Keiner fällt besonders auf. Und wohl kaum einer kommt um freiwillig länger am Flughafen zu bleiben.
Sie werden raus, weg, weiter - flüchten durch die Passkontrollen in den nächsten Flieger oder in die Stadt. Ich werde bleiben – zwei Tage und eine Nacht im Transitbereich.
Wir sind gelandet, ich schalte mein Smartphone ein und blättere nochmal enttäuscht in meinen E-Mails. Einen Tag vor meiner Abreise hat mir die Pressestelle des Flughafens auf meine Anfrage geantwortet.
"Wir möchten darauf hinweisen, dass wir Ihnen keine Erlaubnis geben können, im Transitbereich Aufnahmen zu machen. Wir könnten Ihnen erlauben, im öffentlichen Bereich aufzunehmen."
Ich habe den Aufnahmen im öffentlichen Bereich, dem Eingangsbereich des Flughafens, notgedrungen zugestimmt und in einem regen Mail-Ping-Pong wollte die Pressestelle es plötzlich ganz genau wissen: Welcher Tag, welche Uhrzeit, was genau will ich dort.
"Wir können Ihnen nur die Erlaubnis für den 1. November geben / Wir können Ihnen keine Erlaubnis geben ohne exakte Zeit / Kontaktieren Sie mich gerne, wenn die genaue Zeit feststeht / Wir werden unseren Betrieb über die Aufnahmen informieren."
Ich bin trotzdem geflogen, ich werde trotzdem im Transit bleiben. Aber ich rechne fast damit, dass mich bei meiner Ankunft direkt jemand einsammelt und in den Außenbereich begleitet. Ich fühle mich seltsam unerwünscht hier.
Niemand holt mich ab. Das Flugzeug hat mich zusammen mit den anderen Passagieren ausgespuckt - in die moderne, glänzende Abflughalle, die Lounge 1 – den Schengen-Transitbereich.
In wenigen Augenblicken sind fast einhundert Passagiere weg. Wie eine Handvoll Sand, die man auf einen Strand rieseln lässt, verschwinden wir in dieser Masse aus tausenden von Reisenden, gehen unter in diesem stetigen Strom, der durch die Hallen fließt.
Ich halte kurz inne, hole mir einen Kaffee. Schon wieder schreibt eine Verkäuferin „Julius“ auf den Becher. Globalisierter Quatsch. Es ist Samstag, kurz vor Mittag. Mich begleiten die regelmäßigen Ansagen, Sicherheitshinweise, fremd klingende Namen von Menschen, die dringend zum Gate soundso kommen sollen. Ich suche sie, die Weltenbummler mit dem Koffer voller Stories, die seltsamen Gestalten, die neugierig machen, die Gestrandeten. Aber niemand sticht aus dieser Masse, dem stetigen Strom heraus.
Ich fühle mich wegen der Absage für Aufnahmen unangenehm beobachtet. Unfrei. Traue mich nicht, den Menschen das Mikrofon direkt und sichtbar unter die Nase zu halten. Geschweige denn Angestellte zu interviewen. Ich will ja noch eine Weile hier bleiben. Und beginne, mich mit diesem Flughafen vertraut zu machen.
Ein personalisierter Kaffeebecher für unseren Reporter Julius Stucke in Tegel
Personalisierter Kaffeebecher in Tegel© Deutschlandradio / Julius Stucke
Wo die Pappbecher Namen tragen
Der Tag, die Langeweile – nehmen ihren Lauf. Ich laufe, stundenlang, kilometerweit. Gehe fast jeden Winkel ab in den drei großen Abflughallen. Istanbul zwölf Minuten, Nairobi 11. Peking 9 und Madrid 25. Monitore zeigen den Menschen die Laufwege zum Gate. Aber die vielversprechende Größe hat nicht viel zu bieten. Ich spüre sie nur in den Füßen. Ansonsten ist es ziemlich schnell ziemlich gleichförmig.
Natürlich gibt es ein paar überaus erwartbare regionale Spezialitäten am Flughafen Schiphol. Eine Handvoll Tulpenstände, ein großes Tulpenhaus und „Say Cheese“, die Käsewelt. Ansonsten reiht sich die übliche Mischung aneinander aus Cafés, in denen die Pappbecher Namen tragen. Aus Elektronikgeschäften, Taschenläden und Alkoholverkauf. Dann Parfüm, wieder Taschen, Mode und Schmuck. Und nochmal: Parfüm. Die Welt würde weniger blumig riechen ohne Flughäfen. Die immer gleichen Geschäfte – wegen der Größe dieses Flughafens in unendlicher Doppelung. Und jeder scheint plötzlich dringend eine Sonnenbrille kaufen zu müssen. Oder wenigstens Zeit zu verlieren beim Anprobieren. Wer es nicht eilig hat, der schlägt die Zeit tot. Wenn Zeit wirklich Geld ist, ist der Flughafen ein sehr teurer Ort.
Ich fülle den Tag mit dutzenden kurzen banalen Gesprächen. Woher, wohin. War`s schön? Ach ja, Asien ist ja so anders, New York so gesetzt geworden, die Karibik auch nicht mehr, was sie mal war. An wie vielen Menschen bin ich jetzt schon vorbeigelaufen? An tausenden? Wie die Nadel im Heuhaufen hätte vielleicht einer davon eine Geschichte zu erzählen. Aber ich finde diese Nadel nicht.
Noch ein Becher Kaffee. Der wievielte? Ich habe aufgehört zu zählen. Eigentlich sollte ich voller Neugier mit dem Mikrofon auf die Menschen zugehen, Ihnen Geschichten entlocken, sie wenigstens kurz in ihrem Vorbeihasten aufhalten, sie in Gespräche verwickeln. Stattdessen beobachte ich mich zunehmend selbst. Stelle mir selbst Fragen. Stelle mich in Frage. Ich fühle mich verloren und gescheitert zwischen all den Menschen. Dabei kann dieser Ort durchaus Menschen zusammenbringen, ja: zusammenschweißen. Gemeinsames Warten auf den ersehnten Weiterflug. Einsamkeit und Sehnsucht, Suchen und Finden, Hin und Weg – dies ist ein Ort, der ziemlich viel mit Liebe zu tun hat.
Nach Bangkok zur Ehefrau, zweimal im Jahr
"Way to Bangkok to meet my wife (…) Ich bin auf dem Weg nach Bangkok. Um meine Frau zu treffen. Ich bin seit 12 Jahren verheiratet. Aber! Ich lebe nicht mit ihr, sie lebt nicht mit mir. Ich besuche Sie, sie kommt zu mir. Hier: Ich trage meinen Ring, da steht es: 2002. 12 Jahre her! (…) 12 years ago, you know!"
Endlich, da ist er! Der Mensch, der Geschichten verspricht. Paul, aus Schottland, 49 Jahre alt. In seiner dunkelbraunen Lederjacke steht er da – in einer der vielen Raucherlounges. Kratzt sich kurz die grauen Haare, steckt sich eine Zigarette an, hustet und erzählt von seiner Frau. Die er im Internet kennengelernt hat – und da hören die Klischees, die Vorurteile schon auf. Er hat sie nicht nach Schottland geholt und er macht sich nicht frühverrentet eine schöne Zeit in Thailand. Nein: die beiden lieben sich – aber sie lieben auch ihr jeweils eigenes Leben. Also zieht keiner zum anderen, zweimal im Jahr fliegt er zu ihr, ein-, zweimal kommt sie zu ihm. ‚Würdest Du nach Bangkok gehen‘ fragt er mich und lacht als er mir die Antwort ansieht. Für die Liebe? Klar!
"Would you? Yeah you probably (Lachen) I like it as well but (…) Ich mag Thailand auch – aber möchte ich da für immer hingehen? Und meine Frau: sie ist Kinderärztin. Warum sollte sie herkommen, nach Schottland. Sie hat einen großartigen Job da drüben. Und ich liebe meinen Job. Ich mach den jetzt schon eine lange Zeit. 34 Jahre im nächsten Jahr! (…) 34 years next Year!"
Paul ist Postbote. „Ja, ich bringe die Post“ sagt er mit seinem unvergleichlich schottisch schrägen Lächeln. Seine Augen blitzen, man weiß nicht wie weit der Ernst geht – und dazu wedelt er mit einer Handvoll Postkarten. Keine gewöhnlichen: Urlaubsmotiv plus Standardtext, Wetter gut, Essen OK. Nein: seine Karten sind kleine Kunstwerke. Selber gestaltet, bemalt, gezeichnet.
"And was ist da? This is for my granny. (…) Die ist für meine Oma. Sie hat jetzt Demenz, weißt Du. Deshalb hab ich große Buchstaben gemalt, damit sie es lesen kann. ‚Hallo Evelyn – schöne große Buchstaben für Dich, ich bin in Amsterdam und werde Sirawan – das ist meine Frau – morgen in Thailand sehen. Ich ruf Dich an, wenn ich da bin. (…) when I get there."
Auf einer Karte für einen guten Freund steht I hate People“ , in Comicbuchstaben mit einer erhobenen Faust dazu gemalt. „Eine Erinnerung an meine Punkvergangenheit“, sagt er. Das Plattencover einer britischen Punkband. Punk, das wäre doch die Flucht aus Liebe nach Bangkok, alles andere hinwerfen, oder nicht? Ja - aber jetzt ist Punk eher dead und Paul hat ein kleines Häuschen und seine Sicherheit.
"Punk is bollocks now. But it was good when you were a young man. - Punk ist totaler Quatsch jetzt – aber es war gut, als ich ein junger Mann war."
Sagt er und muss los, seine Kartenkunstwerke einstecken und sich in den Flieger verfrachten. Auf zu der Frau, die er liebt, seit mehr als 12 Jahren – und die er seit dem drei, viermal im Jahr sieht. Warum daran rütteln, wenn es funktioniert, so lange schon. Und so glücklich wie er jetzt vor sich hin strahlt?
Künstlicher Park auf dem Flughafen Schiphol in Amsterdam
Künstlicher Park auf dem Flughafen Schiphol© Deutschlandradio / Julius Stucke
Keine Juwelenhändler, keine Drogenschmuggler, keine Terroristen
Ich rauche auf und frage ich mich: warum war ich noch gleich hier her gereist? In den Transitbereich eines riesigen Flughafens, zwei Tage in Schiphol, Amsterdam? Juwelenhändler, Drogenschmuggler, Agenten, potenzielle Terroristen? Nein. Ein verliebter Schotte! Ich bin trotzdem froh, Paul getroffen zu haben. Immerhin. Und froh, dass es diese Raucherlounges gibt. Sie sind der beste Platz für Gespräche, wer hier steht hat wenigstens fünf Minuten Zeit. Es gibt mehr als eine Handvoll dieser Räume hier. Größere und ganz kleine, neonhelle und schmutzig-schummrige mit gepolsterten Wänden zum Anlehnen. Gute Luft und Gemütlichkeit gibt es in keiner, und doch kommen und bleiben die Menschen. Hier riechen sie alle gleich schlecht. Der schicke Geschäftsmann im Maßanzug, die Stewardess. Das Pärchen, dem die lange Reise zurück nach Europa in den Augen abzulesen ist. Ich werde übel riechen, nach diesen zwei Tagen.
Die Abfertigungshallen zwei und drei werden durch den Holland Boulevard verbunden. Was besonders klingt, verschwindet gerade aber unter Bauverkleidungen. Umbaumaßnahmen um danach vermutlich noch weitere der üblichen Geschäfte zu offenbaren, noch mehr aalglatte Langeweile. Hier liegen eigentlich zwei der Besonderheiten des Flughafens Schiphol: eine Außenstelle des Reichmuseums mit den Werken großer Künstler und eine Flughafenbibliothek. Wer leiht sich Bücher im Flughafen aus? Welche Kunstkenner treffe ich hier im Museum? Oder sogar Kunsträuber? Könnte spannend sein, ist es aber nicht. Alles wegen Umbaumaßnahmen geschlossen. Und jetzt auch noch: Ärger über mich selbst. Das hätte ich auch vorher recherchieren können.
Ein Airport-Casino ohne Leidenschaft
Eine Besonderheit aber bleibt: an diesem Flughafen gibt es ein Casino. Als würde das bloße Verbrennen der Währung Zeit nicht reichen. Dunkle Räume mit Spielautomaten, keiner ist besetzt. In der Mitte: ein Roulettetisch. Ich kann mir nicht ganz erklären, warum man ausgerechnet am Flughafen Roulette spielen sollte. Aber wo ich schon mal die Gelegenheit habe, tausche ich 15 Euro gegen drei Chips und steige mit dem einzigen Gast ins Spiel ein. Ein junger Asiate, vielleicht Mitte, Ende 20, steht scheinbar gelangweilt am Tisch und verteilt wahllos Chips im Wert von ein paar hundert Euro auf dem grünen Filz. Nimmt es gelassen hin, dass der Großteil jedes Mal weg ist, wenn die Kugel ihren Platz gefunden hat. Ich frage den Croupier, ob hier immer so wenige Leute sind.
"Depends! Sometime it can (…) Kommt drauf an! Manchmal ist es voll. Aber die meisten Leute bleiben nur 15 Minuten hier. Heute Morgen hat ein Mann 5000 gewechselt, 6000 gewonnen. Dann ist er gegangen. Es gibt große Spieler hier! (…) there are big players here!"
Sagt er und blickt vielsagend zu dem Asiaten, d nochmal beiläufig einen hundert Euro Schein auf den Tisch wirft. Nehmen sie auch Tickets hier?
"(lacht) Depends where you are flying to!"
Zu den großen Spielern zähle ich nicht. Setze meine drei kleinen Chips hintereinander auf die 15. Und ernte fröhliches Lachen vom Croupier, als die Kugel zweimal genau eine Zahl neben der 15 landet.
"Almost! Almost rich. Oh the other Side. Can you believe it!”"
Mein Ticket will ich lieber nicht verspielen und breche auf. Dieses Flughafencasino ist zwar einmalig, aber trotzdem vermutlich das langweiligste der Welt. In jedem anderen Casino erlebt ein Reporter Leidenschaft. Verzweiflung. Glückseligkeit. Hier: kein Gefühl.
Noch ein paarmal lasse ich mich von den Laufbändern an den Gates, den Flugsteigen, entlang tragen. Stehe, schaue, lasse die Menschen an mir vorbeiziehen, die sich bald in alle Himmelrichtungen zerstreuen. Werfe ein paar Mal einen Blick in das Meditation-Center.
Uni-Sex-Toilette und Gebetsräume
Klingt groß, ist aber auch nur ein kleiner karger Raum, der Ruhe zum Beten bietet. religionsübergreifend – die Uni-Sex-Toilette unter den Flughafengebetsräumen. Ich hatte gehofft, hier Gruppen orthodoxer Juden zu treffen, die sich mit Muslimen die Gebetsklinke in die Hand geben, Buddhisten aufgereiht neben Christen. Aber hier sucht keiner seinen Gott.
Pizza. Pasta. Panini. Schnörkellos benennt sich eine der vielen Möglichkeiten, hier etwas zu essen, nach ihrem Angebot. Ich wähle Pasta, die schmeckt wie standardisierte Franchise-Kost in jedem Winkel dieser Welt. Gnadenlos unauffällig. Das Restaurant liegt eine Etage über dem Gewusel. Ermöglicht einen Blick auf eine Abflughalle, die sich Stück für Stück leert. Es ist fast 21 Uhr. Mehr als 8 Stunden bin ich jetzt hier. Als würde irgendwer die ganze Szene mit einem Schalter langsam dimmen, kehrt Ruhe ein. Es wird noch nicht still, nicht leer, nicht dunkel – aber die geschäftige Hektik des Tages wird gedämpft.
Die Zeit fühlt sich an wie ein alter, zäher Kaugummi. Sie fließt nicht, sie dehnt sich langsam, wird zusammengedrückt, zieht sich wieder auseinander. Mühsames Durchkauen der Stunden. Gegen Abend wird aus dem Drehkreuz Flughafen, dem kalten, technischen Mittel zum Zweck, fast ein magischer Ort. In sich gekehrt und mit einem ganz besonderen mystischen Licht, das entsteht, wenn sich in den großen Scheiben die Lichter des Drinnen spiegeln und vermischen mit dem Blick ins dunkle Draußen. Auf Kolonnen parkender Serviceautos und Tankwagen. Auf orange blinkende Gepäckfahrzeuge und schlafende Riesen: große Flugzeuge die dunkel und stumm auf den nächsten Einsatz warten. Ich will nicht weiter warten, möchte am liebsten sofort gehen, Enttäuschung, Frust und gescheiterte Reporterfantasien hinter mir lassen – aber es folgen noch rund 24 Stunden.
Ein letztes Mal für heute mache ich mich auf den Weg vom einen ans andere Ende – von Lounge 3 zur Lounge 1. Noch einmal durch die Sicherheitskontrollen in den Schengen-Transit. Ich frage mich, ob irgendwo hinter den Kulissen Menschen sitzen und mich auf Überwachungskameras und Monitoren beobachten. Ob es an diesem Ort permanenter Sicherheit irgendwem auffällt, dass ich den ganzen Tag schon hin und her laufe? Mehrfach die Pass- und Sicherheitsbarriere zwischen Schengen und internationalem Transit passiert habe. Dass ich sinnfrei von einem zum anderen Ende laufe, in die Gates hinein und wieder zurück und jetzt, wo es leer wird, trotzdem noch hier bin. Aber keiner kommt aus dem Nichts und spricht mich an.
Die Geschäfte links und rechts lassen Stück für Stück ihre Rollläden runter, Sicherheitspersonal macht sich einen Spaß daraus mit Segways durch die leeren Gänge zu rasen. An einer der vielen Stellen, an denen Bildschirme die Flüge anzeigen, bleibe ich stehen. Sieben große Flachbildschirme hängen da hochkant nebeneinander. Ich zähle, jeder bietet Platz für 31 Abfluginformationen. Macht 217 Flüge. In Hochzeiten sind diese Bildschirme alle voll, flackern, wechseln ihre Einträge, sind die flirrende Matrix des täglichen Gewusels. Jetzt sind sie wie eine Mahnung: hier geht bald nichts mehr. Es könnte einsam werden. 13 statt 217 Flügen. Der letzte um 5 vor Mitternacht nach Istanbul.
Das Park Café auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol - Schlafplatz unseres Reporters Julius Stucke
© Deutschlandradio / Julius Stucke
Schlafen im Park Café
Ich suche mir ein Plätzchen für die Nacht. Auf der oberen Etage haben die Flughafengestalter hier im Abflugbereich 1 den Airport-Park eingerichtet. Was nach Park klingt und so aussehen soll, hat zwar auch nicht viel mehr Charme als ein Park-Platz aber immerhin etwas. Hellgrüne Farben, satte dunkelgrüne Pflanzen, ein echter Baum wächst in die Decke hinein – künstliche Baumstämme, mit Stoff überzogen, liegen auf dem Boden herum. Neidisch blicke ich den letzten Menschen nach, die zu den letzten Flügen eilen. Bekomme Fernweh – und sei es nur, um diesem skurrilen Flughafenaufenthalt einen Sinn zu geben. lange warten im Transit ist eine Sache. Lange ausharren, ohne Reiseziel eine ganz andere.
Es gibt gemütliche Liegestühle und sogar eine Freiluftterrasse. Aber die hat längst geschlossen. Geöffnet nur bei Tageslicht. Jetzt verleiht grelles Kunstlicht der Leere ihre Ungemütlichkeit. Wasserplätschern und Vogelgezwitscher von Band sollen dem „Park“ Leben einhauchen.
Aber immerhin gibt es hier das Park Café – und zu meiner Beruhigung sagt die freundliche Angestellte im passend-grünen Polohemd: sie habe die ganze Nacht geöffnet. Getränkeversorgung also ist sichergestellt. Ich bin als Beobachter hier her gekommen – jetzt bin ich Teil dieser Zwischenwelt geworden. Kein Journalist mehr, sondern freiwillig Gefangener. Habe meine Reporterambitionen längst eingestellt und lasse alles nur noch an mir vorbeiziehen, statt darauf zuzugehen.
Jetzt, kurz vor 23 Uhr habe ich mit diesem Tag innerlich abgeschlossen. Lasse ihn bei einem Bier und einer Zigarette ausklingen, als Aaron den Raum betritt und mich nach Feuer fragt. Ich reiche es ihm und frage, welchen Flug er verpasst hat. Keinen. Aaron ist auf dem Weg aus Finnland, aus Helsinki nach Mexico City. Aber weil er 50 Euro bei der Online-Buchung sparen wollte, hat er nicht so genau hingeschaut und sich damit einen 18-Stunden Aufenthalt in Amsterdam aufgehalst. Aber ins Aufnahmegerät möchte er seine Geschichte lieber nicht erzählen. Zu viel Bier, zu schlechtes Englisch meint er und rückt seine braune Schiebermütze zurecht. Er blickt scheu durch seine Brille, schaut mir fast nie direkt in die Augen. Wirkt nachdenklich und etwas verloren.
Aaron ist 29, in Lappland geboren, jetzt lebt er in Helsinki. Ist Künstler – aber über seine Kunst mag er nicht reden. Dreimal war er schon in Mexiko. Junge Menschen Kunst unterrichten. Bei seinem letzten Aufenthalt hat er eine Frau kennengelernt, die besucht er jetzt. Mexico City – ungefähr das genaue Gegenteil seiner Heimat. Eine Stadt, die selbst im engeren Stadtgebiet annähernd doppelt so vielen Menschen Platz bietet, wie Finnland im Ganzen. Fünfeinhalb Millionen gegen fast Neun. Vollgepfropft mit Menschen, und mit Gewalt. Ein Bekannter von ihm sei dort gestorben, ein Sozialarbeiter. Und er sei der einzige Europäer in seiner Straße gewesen, die letzten Male dort. Wenn sie Schüsse hörten, verriegelten sie die Türen. Seiner Mutter hat er gesagt: wenn mal etwas passiert, zahl bloß kein Lösegeld.
Wir sitzen hier wie die beiden letzten Menschen auf diesem Planeten. Rauchen, trinken. Aaron. Wie ihn habe ich mir Finnland immer vorgestellt. Verschlossen, einsam und irgendwie dunkel. Er plaudert nicht. Wir schweigen viel. Er will keine Details über seine Freundin erzählen. Er will nicht beschreiben, was er für Bilder malt. Und ich fange an mir auszumalen, ob seine Geschichte nicht vielleicht eine ganz andere ist. Im Augenwinkel huscht eine Maus durchs Park Café. Wir schauen uns kurz an, grinsen. Gut! Wir haben sie beide gesehen. Als er Bier holt, lässt er seine Tasche bei mir stehen. Vertrauen. Nicht verschwinden, sagt er. Werde ich nicht. Aber als er zurück kommt, brauche ich eine Pause von der schneidenden Luft dieses Raucherraums.
Ich drehe noch eine kleine Runde durch die Leere – noch einmal die Gänge auf und ab. Als ich zurückkehre sitzt Aaron immer noch da. Ich wünsche ihm eine gute Nacht und suche mir einen Schlafplatz.
Zwischen echtem und falschem Grün liegen kunstlederne Sitzsäcke rum. Perfekt um sie zweckzuentfremden und mir aus zweien ein Bett zu bauen. Die letzte Überraschung heute: Ich bin der einzige, der hier Ruhe sucht. Das Vogelgezwitscher von Band und das helle Licht gehen mir auf die Nerven. Ich will schlafen, ziehe mir die Kapuze ins Gesicht, klammere mich an meine Tasche und falle irgendwann in einen ungemütlichen, aber tiefen Schlaf.
Mein Schädel dröhnt. Kinder spielen um mich herum. Der Flughafen wacht früher auf als ich. Ich fühle mich beobachtet, öffne vorsichtig ein Auge. Ich bin nicht mehr allein, sondern liege wie auf dem Präsentierteller zwischen den ersten Reisenden. Es ist vier Uhr. Ein Blick zu den Bildschirmen in der Nähe. Sie sind wieder gefüllt mit 217 Flügen zwischen 5 Uhr 30 und halb Eins. Ich bin noch nicht bereit mich hoch zu kämpfen - sinke immer wieder in einen Dämmerzustand. Um 7 schaffe ich es aufzustehen. Zerknautscht und lustlos.
Zahnbürsten, Haargel und drei Sorten Kondome
Ich putze mir auf der Toilette die Zähne, entdecke mich im Spiegel. Erschrocken, wie aschfahl und müde ich aussehe. An der Wand hängt ein Automat. Es gibt Zahnbürsten, Haargel und drei Sorten Kondome. Hygiene und Sicherheit am Flughafen.
Frühstück im Park-Café. Das Licht der Sonne beginnt den Flughafen warm zu durchfluten, durch die großen Scheiben scheint es von allen Seiten einzudringen, reinigt ihn von seiner nächtlichen Starre und macht mich langsam wach. Meine Gedanken hängen dem Gespräch mit Aaron, dem Finnen, nach. Als ich zur Seite schaue entdecke ich ihn. Er sitzt immer noch hier, vor sich immer noch Bier, wartet auf seinen Flug. Tippt abwesend auf seinem Smartphone rum.
Ich kann kaum glauben, dass es einige Menschen gibt, die Jahre am Flughafen gelebt haben. Ich habe keinen solchen getroffen – oder doch? Ich verbringe den Rest eines langen Tages so wie den ersten: laufen, schauen, kaum Erlebnisse. Stehe neben mir, habe mich verloren im Niemandsland. Weiß nicht recht, was ich mache. Die Zeit verschwimmt, genau wie der Grund aus dem ich hier bin.
Eines aber muss ich noch tun. Will ich noch wissen. Ich suche auf einem der Monitore nach dem Flug nach Mexico City. Da ist er: 14 Uhr 35, Flugsteig F7. Als ich dort bin und Aarons Mütze in der Schlange verschwinden sehe, bin ich beruhigt. Er tritt seine Reise an. Mein Rest ist graues Warten.
Um kurz nach 20 Uhr stehe ich überpünktlich an meinem Flugsteig. Nehme seltsam sentimental Abschied, von einem Flughafen der mir jetzt vertraut vorkommt. Fast wie ein alter Freund. Den ich aber erst mal nicht mehr sehen will. Hat sich all das gelohnt? Fast 33 Stunden ausharren in dieser elenden Zwischenwelt? Ja! Ich war nie so froh, in einem Flugzeug auf dem Weg nach Hause zu sitzen.
Julius Stucke: "Von nun an lieber Hafen ohne Flug"
Julius Stucke, Deutschlandradio Kultur, am Hafen in Amsterdam
Julius Stucke (privat)© Deutschlandradio / Julius Stucke