Verliebt in die Englischlehrerin

28.05.2008
Wie schon die "Deutschstunde" spielt auch dieses Buch wieder im Schulmilieu: In "Schweigeminute" schildert Siegfried Lenz die Trauerfeier für die tödlich verunglückte Englischlehrerin Stella Petersen. Ihr Schüler Christian erinnert sich an die hübsche, junge Frau, die er geliebt hat. Ein Alterwerk des 82-jährigen Autors.
Der Schutzumschlag sieht beinahe aus wie immer: "Siegfried Lenz" steht in zwei Zeilen schwarz auf weißem, bildlosem Grund. Der Nachname ist größer und breiter als der Vorname gesetzt, kleiner dagegen und in einer anderen Farbe darunter der Titel: "Schweigeminute". So heißt der neue Band, den Lenz mit 82 Lebensjahren und im 57. Arbeitsjahr vorlegt. Schon diese Zahlen nötigen Respekt ab.

"Schweigeminute" beginnt mit einer Gedenkstunde im Lessing-Gymnasium von Hirtshafen an der Nordsee für die verstorbene Englischlehrerin Stella Petersen. Ihr Schüler Christian folgt den Reden, schweift aber immer wieder in Erinnerungen ab, die das Geschehen in der Aula in den Hintergrund drängen.

Denn er hat die Tote geliebt, und erinnernd erweckt er sie zum Leben. Christian denkt daran, wie er der hübschen, jungen und unverkrampften Lehrerin erst zufällig, dann mit Bedacht begegnete, wie sie miteinander geschlafen haben und Stella dann einige Tage mit dem Segelschiff von Freunden wegfuhr, um bei der Rückkehr tödlich zu verunglücken.

Unter Schülern und Lehrern spielte schon Lenz’ berühmter Roman "Deutschstunde" (1968). Doch "Schweigeminute" ist eher mit "Arnes Nachlass" aus dem Jahr 1999 zu vergleichen: wegen der schwebenden Atmosphäre, die die siebziger Jahre ohne Hippies, Joints und Musikgruppen nur andeutet mit einem Käfercabrio sowie der vor 1968 nicht vorstellbaren unverkrampften Nähe zwischen Lehrerin und Schüler. Lenz präsentiert einen der "überlieferten archetypischen Konflikte der Literatur", die, so hat er in einem Essay geschrieben, die Zeit aufhöben. In der zur Novelle gedehnten "Schweigeminute" ist es das Gegeneinander von Tod und Liebe.

Staunen lässt einen Lenz’ erzählerische Ökonomie. Mit "schemmernden" Steinen, einen "Stiem von Funken", einem "Arbeitsmann" oder einer "Zudeck" statt einer Bettdecke ist das Norddeutsche unaufdringlich präsent. Zu Beginn verlegt Christians Vater die Steine an der Hafenmole, die am Ende zu dem tödlichen Unfall führen. Die Zahl der Personen ist sehr beschränkt, ohne dass die Liebenden ausschließlich im Mittelpunkt stünden. Von der Liebesnacht im Hotel wird das Teilen eines breiten Kopfkissens erwähnt, von einer Begegnung unter freiem Himmel "die Mulde bei den Kiefern". Wie wunderbar keusch, jubelten insbesondere ältere Kritikerkollegen, derzeit gerade mit allerlei Feuchtgebieten konfrontiert.

Doch Keuschheit greift zu kurz. Zwar ist die einzige Exaltation des Ich-Erzählers Christian der Wechsel aus der dritten Person zur zweiten, sobald er von Stella spricht. Ansonsten lässt er alles Erwartbare vermissen: Stolz auf die Eroberung, Prahlerei gegenüber den Klassenkameraden, sexuelle Begierde, Unsicherheit über die Angemessenheit seiner Wünsche und der körperlichen Ausstattung, Angst vor dem Entdecktwerden.

Der 18-Jährige, der an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt steht, trägt Züge der Weisheit: Jugend und Alter verschmelzen. Auch die Handlungsorte der auf den ersten Blick realistischen Novelle – eine einsame Vogelinsel, auf der sich die Liebenden finden, die Steinmole, an der das Segelschiff mit Stella strandet – sind als ungeregeltes Außen und geschütztes Innen unaufdringlich symbolisch aufgeladen. Nicht Keuschheit, sondern die Auseinandersetzung mit dem Tod steht im Vordergrund. In diesem ernsten Sinn ist die leicht wirkende "Schweigeminute" ein Alterswerk.

Rezensiert von Jörg Plath

Siegfried Lenz: Schweigeminute
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008
128 Seiten, 15,95 Euro