Verlassene Seelen

Rezensiert von Walter van Rossum · 27.02.2006
Das Paradies ist in Reichweite, wir erkennen es bloß nicht, erklärt der Zeitgeistweise Ulf Poschardt. Deshalb weiht er uns mit seinem Buch über Einsamkeit in die verkannten Wonnen dieses Lebensgefühls ein. Den verlassenen Seelen aller Länder und Lebenslagen soll endlich Genugtuung widerfahren. Doch je mehr Poschardt sich bemüht, den Leser am Glück seiner Einsamkeit teilhaben zu lassen, umso einsamer, trauriger und verwirrter wird der Leser.
Das mag zunächst daran liegen, dass der Autor konsequent Alleinsein und Einsamkeit verwechselt. Auf Seite 17 dann ein kleiner Hoffnungsschimmer: Poschardt scheint zu ahnen, dass es da einen Unterschied gibt: Alleinsein heißt sich vom kommunikativen Tumult der Weltläufe vorübergehend zurückzuziehen, während Einsamkeit eher bedeutet, von aller Welt verlassen zu sein - aus welchen Gründen auch immer.

Doch Poschardt hält sich bei solchen philologischen Feinheiten nicht weiter auf, sondern einsam dekretiert er kurzerhand: "Einsam ist, wer geliebt werden will!" Anders gesagt, in der Einsamkeit bereitet sich der Einsame auf die Eigentlichkeit vor: "Der Einsame weiß, dass er Liebe will. Wenn es so weit ist, wird er lieben können." In den Verließen der Einsamkeit rüstet sich das wahre Selbst. Allerdings sollte man bereits den schwarzen Gürtel der Erleuchtung erreicht haben, um das nachvollziehen zu können. Deshalb versteht sich Poschardt auch als eine Art Trainer, der uns auf fast zweihundert Seiten mit Wahrnehmungsübungen auf die Sprünge helfen will.
So führt er uns durch die bunten Labyrinthe der Einsamkeit. Wir besichtigen die Einsamkeit beim Essen, beim Schlafen, beim Shoppen, beim Tanzen, beim Sex, in der Ehe und besonders gerne im Auto: "Im Auto bewegt sich der Einsame durch die Welt und bleibt doch ganz bei sich." Das Auto sollte allerdings mehr als 200 PS haben, denn erst dann kann das Auto "den Therapeuten ersetzen". Ulf Poschardt ist bekannt als publizistischer Lifestyledesigner. Und in dieser Eigenschaft hat er auch ein Buch über seine Liebe zu Sportwagen veröffentlicht.

Insofern darf man vermuten, der Auto-Einsame spricht aus eigener Erfahrung, wenn er erklärt: "Einzelgänger sind für kluge, schöne Frauen jene Männer, die nach einem harten Tag weder ins Fitness-Studio noch zu ihren Skatbrüdern gehen, sondern mit dem Radio an durch die nächtlich erleuchtete Stadt cruisen. Die teilnahmslose Anteilnahme am städtischen Leben: das Dabeisein, ohne anwesend zu sein." So ist es auch dem Freund Mario ergangen, der es mit Hilfe "muskulöser BMWs" geschafft hat, den lauen Niederungen des Familienlebens zu entkommen, um sich in erhabene Einsamkeit zu retten und der jetzt davon träumt, seinen Kindern in einem Porsche Cayenne entgegenzureiten. Wir müssen uns Mario natürlich als einen glücklichen Menschen vorstellen, wenn er sich Monat für Monat 200 Euro vom Mund abspart, um seine kühne Vision einst realisieren zu können.

Man lernt in diesem Buch viele lonesome Cowboys dieser Güteklasse kennen, die verloren durch die Steppe ihres Daseins stolpern. Doch was solls? Poschardt sei Dank mutieren sie vor unseren Augen zu Filmhelden aus der Werbung. Natürlich gibt es auch Frauen, die am harten Brot der eigentlichen Einsamkeit kauen: "Wer als Frau einsam war und dann auf ein erigiertes männliches Geschlechtsteil stößt, braucht viel Zeit für sich, um den Anblick zu verarbeiten: zu verdrängen, vergessen, verklären, verzieren. Männern geht es mitunter nicht anders."

Noch bei anderen erstaunlichen Gelegenheiten entdeckt Poschardt Möglichkeiten, wie man sich aus der Zwergenwelt des Sozialen befreien kann. Und so nimmt er auch ohne Zögern den Sozialstaat ins Visier: "In Deutschland ist Einsamkeit auch deshalb ein großes Problem, weil - anders als in den USA und in England - Eigenverantwortung und Selbstbestimmung eher Furcht als Freude erzeugen. (...) Der Sozialstaat ist eine kollektive Wärmestube." Doch dank Hartz IV werden wir hier gewiss bald eine Pandemie glücklicher Einsamer erleben und endlich richtige Amerikaner werden.

Spätestens an dieser Stelle begreift man, dass ein Rebell der Einsamkeit wie Ulf Poschardt nichts anderes sucht, als endlich die "gefühlten" Realitäten des Rudels bejahen zu dürfen. Sag ja, zum traurigen Tier in Dir! Sag ja, zum neoliberalen Subjekt, dem einsamen Überlebenskämpfer im Dickicht entfesselter Konkurrenz! Sag ja zur Werbung, denn die weiß, was Du wirklich willst! So sieht das aus, wenn die Postmoderne existentialistisch wird.

Andererseits ist dieses Buch von so herzergreifender intellektueller Schlichtheit, dass man es möglichst nicht zum Symptom irgendeiner Verfallsgeschichte hochkritisieren sollte. Man fragt sich bloß, wie einsam Poschardt sein muss, um vor einem wildfremden Publikum die Büchse seiner gesammelten pubertären Phantasien zu öffnen.


Ulf Poschardt:
Einsamkeit. Die Entdeckung eines Lebensgefühls,

Kabel by Piper,
München 2005, 190 Seiten.