Vergangenheit und Zukunft der Ostseeküste

Lesen im Sand

Geologe Reinhard Lampe an der Universität Greifswald
Herr über 200 Dosen mit den Proben vom Neudarß: Geologe Reinhard Lampe an der Universität Greifswald. © Deutschlandradio / Silke Hasselmann
Von Silke Hasselmann, Deutschlandradio-Korrespondentin Mecklenburg-Vorpommern · 17.02.2016
Das Greifswalder Institut für Physische Geographie erforscht die Veränderung der Ostseeküste im Laufe tausender Jahre. Die Wissenschaftler können das in einem neuen "Lesesaal" erforschen: in Norddeutschlands erstem Lumineszenzlabor. Die "Buchseiten" bestehen aus Sand, die "Buchstaben" aus speziell erzeugten und gemessenen Lichtsignalen.
Naturpark "Vorpommersche Boddenlandschaft" auf der Halbinsel Darß, das sind kilometerlange Sandstrände und Dünen. Im Laufe tausender Jahre hat die Natur hier einen Sandwall nach dem anderen angespült – rund 120 bis heute. Sie ließen und lassen den von Menschenhand und Baggern weitgehend unberührten Neudarß wachsen. Doch wann genau und in welchem Tempo? Das wollen die Greifswalder Geowissenschaftler herausfinden und brachten von dort zunächst reichlich Proben mit, erklärt Professor Reinhard Lampe auf dem Weg in einen Arbeitsraum seines Uni-Lehrstuhls:
"So, und da stehen jetzt 150 bis 200 Dosen vor uns - alle lichtdicht verschlossen - in denen unsere Proben vom Neudarß aufbewahrt werden. Also wenn hier steht D5 160 - 170, heißt das in der Tiefe ... von 160 bis 170 cm, genau. Und das im Abschnitt Darß 5."
In diesen Wochen tragen Prof. Lampe und seine Mitarbeiter diese Dosen nach und nach ins Nachbargebäude, wo sie das 250.000 Euro teure Lumineszenz-Labor betreiben - in drei kleinen, bunkerähnlichen Räumen.
Doktorand Michael Lenzler am Lumineszenz-Reader im Labor des Greifswalder Instituts für Physische Geographie.
Doktorand Michael Lenzler am Lumineszenz-Reader im Labor des Greifswalder Instituts für Physische Geographie.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann

Im Rotlichtbezirk

"So, jetzt sind wir hier im Rotlichtbezirk (lacht). Das läuft jetzt alles nur unter Rotlicht, weil kein Tageslicht an diese Proben darf. Die beiden Nachbarräume sind also auch nur über Lichtschleusen zu betreten. Wir können ja mal durch diese durch. Die dürfen wir nur einzeln betreten."
Denn blaues oder weißes Licht würde sofort die in den Sandkörnern gespeicherte, mitunter Jahrtausende alte Information löschen, wann sie das letzte Mal Sonnenlicht gesehen haben, bevor sie von neuen Schichten überdeckt wurden. Licht aus dem roten Spektrum hingegen schadet den Sandproben nicht, die hier im Vorbereitungsraum erstmals geöffnet und aufbereitet werden.
Eine Woche lang heißt es Waschen, Sieben, Laugen, bis von dem Sand einer Dose nur noch drei bis vier Gramm übrig bleiben, erklärt Laborchef Lampe. Dann zeigt er auf das gläserne Hochsicherheitslabor an der Wand und auf die unablässig summende Entlüftung, denn:
"Zum Schluss hofft man, dass man Quarze nur einer ganz bestimmten Korngrößenfraktion hat, und die müssen dann noch mal eine besondere saubere Oberfläche haben. Dazu müssen sie unter diesem Abzug mit Flusssäure angeätzt werden. Das ist eigentlich der Arbeitsschritt, der besonders gefährlich ist, weil Flusssäure hochgiftig ist."

Die Herzkammer des Lumineszenz-Labors

Endlich geht´s durch zwei Lichtschleusen in die Herzkammer des Lumineszenz-Labors. Auch dieser Raum rot, aber unspektakulär.
"Ja, das ist alles. Ein paar Drähte, ein paar Zylinder und ´ne schwarze Kiste unten drunter."
Doch diese schwarze Kiste hat es in sich. So könnte ein High-End-Plattenspieler aussehen. Tatsächlich aber ist dies der Lumineszenz-Reader, also jene "Sand-Uhr", auf die Greifswalder Geowissenschaftler fast sieben Jahre gewartet haben. Gerade will Michael Kenzler das Gerät mit neuen Plättchen beschicken, auf denen die winzigen Quarze liegen. Beim Öffnen schiebt sich leicht drehend eine Platte hervor, die einer sehr edlen Roulettescheibe ähnelt.
"Hier haben wir noch mal die Proben, damit Sie mal eine Vorstellung haben, wie viel das ist. Das ist ganz wenig."
Wie der Reader den Sand dazu bringt, die in ihm gespeicherten Informationen freizugeben, ist für einen Laien schwer zu verstehen. Nicht aber das Ziel:
"Ich bestimme also dann, wenn ich ihn hier reinstecke, die Zeit, wann es das letzte Mal die Sonne gesehen hat. Warum ist das wichtig zu wissen? Es ist die Altersbestimmung, nichts anderes. Aber dieses Alter ist natürlich etwas, das wir in der Rekonstruktion der Landschaftsgeschichte brauchen."
Im März sollen die ersten Daten ausgewertet sein. Laborchef Reinhard Lampe hofft dann erkennen zu können, wann und in welchen Intervallen sich die Küste des Neudarß im Lauf tausender Jahre verändert hat.
"Und wenn ich das fortschreibe, dann kann ich sagen, wenn das alles so weitergeht wie bisher, dann sieht der Neudarß in 100 Jahren, in 200 Jahren so aus."
Doktorand Michael Kenzler hofft derweil, mithilfe der neuen Greifswalder Sand-Uhr bald mehr auch darüber zu erfahren, wann hier im Nordosten die Eiszeit-Gletscher vorgerückt sind.
"Denn wenn ein Gletscher vorrückt, hat man ja im Vorfeld viele Schmelzwässer, und die lagern eben auch Sande ab, die wir wieder, wenn wir Glück haben, datieren können. Und da wollen wir herauskriegen, wann hier die letzten 100.000 Jahre Mecklenburg-Vorpommern mit Eis bedeckt war und wann wir hier eisfreie Zeiten hatten. Das ist auch ein ganz spannendes Thema, mit dem wir uns hier befassen."
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