"Verfremdung" als Inspiration

Von Charlotte Misselwitz · 24.01.2011
Er stammt aus den USA und lebt als Jude in einer muslimisch geprägten Nachbarschaft in Berlin-Neukölln. Kein Wunder, dass der Sänger Daniel Kahn viel über "Verfremdung" nachdenkt - für ihn ist sie Inspiration. Das Multitalent spielt Klezmer für die Gegenwartsbewältigung, wie er sagt.
"Sechs Millionen Deutsche" - fast 200 Besucher des Café Burger in Berlin verdrehen johlend die historische Zahl. Das Lied erzählt die wahre Geschichte von Abe Kovner, der nach dem Holocaust aus Rache an der Ermordung der Juden ebenso viele Deutsche umzubringen plante. Vorn am Mikro steht ein Mann in schwarzem Anzug, Hut und dunklem Bart. Er lächelt. Die kräftigen Augenbrauen zusammengezogen, fixiert er das Publikum.

Daniel Kahn: "In Wien sang ich das Lied das erste Mal meiner Mutter vor. Und sie hatte eine echte ‚Schadenfreude’. Sie sagte, ich weiß, ich sollte das nicht genießen. Aber ich tu’s. Da dachte ich, dass ich vielleicht aufhören sollte, das Lied zu spielen."

Daniel Kahn ist einer von fast 10.000 jungen Juden in Berlin. Sie kommen aus Israel, Russland oder den USA. Der 32-jährige Amerikaner lebt seit fünf Jahren hier, spricht fließend Deutsch, hat eine deutsche Freundin. Und mittlerweile als Musiker eine wachsende Fangemeinde. Grad kam sein drittes Album mit der Band "Painted Bird" heraus: "Lost Causes". Aber immer wieder will das Publikum, dass er das eine Lied singt.

Daniel: "”Ich mag es nicht mehr spielen. Entweder lieben oder hassen die Leute das Lied für die falschen Gründe. Man kann Menschen damit befremden. Und Ja, es ist Verfremdungsklezmer, ich weiß ...""

Mit diesem "Verfremdungsklezmer" will er das Publikum zum Nachdenken anregen: durch Überspitzung. Fremd und gleichzeitig vertraut klingen für deutsche Ohren auch die Lieder, die Daniel Kahn auf Jiddisch singt.

Musik: Dumai:
"Auf der moyer steht a zelner, hinter me die grine felder. Mi hot geboit zuviele grentsn. Afn land und in die mentshn."

Daniel Kahn lebt selbst "verfremdet". Der Amerikaner wohnt in Berlin-Neukölln inmitten arabisch-türkischer Nachbarschaft. Und der Name der Straße, Karl Marx, findet sich auch in seiner Wohnung. Das kommunistische Manifest steht auf dem Holzregal neben jiddischer Lyrik und einem Buch von Leonhard Cohen. Alt, neu, deutsch, arabisch, jüdisch - Daniel Kahn mixt diese Welten. Und zu Haus ist er grad auf Abflug getrimmt.

In T-Shirt und Jeans sitzt Daniel Kahn am Laptop und klickt sich durch die Online-Buchung für seinen Flug am nächsten Tag. Ungeduldig fährt er sich mit der Hand übers schmale Gesicht und meint: Eines Tages werden wir alle erleben, wie uns aufgrund unserer Papiere die Einreise oder Ausreise verwehrt wird.

Daniel: "”Es gibt diese Idee des abstrakten Juden als den Anderen. Und in dieser Welt werden immer mehr Gruppen zu Fremden, Gastarbeitern, Exilanten oder Ausländern.""

Dann packt er die wichtigsten Sachen in seinen Koffer: Zieharmonika, Mundharmonika, die Ukulele. Es geht zu seiner Mutter nach Detroit. Der zweite Besuch in den letzten Monaten. Ganz in die USA zurückkehren will er nicht.

Nach dem Theaterstudium in Ann Arbor, Michigan tauchte er in New Orleans in die Blues- und Theaterwelt ein, dann kam New York und mit dem Klezmer die jiddische Sprache und Deutschland. Den Kontakt zu seinen Eltern, eine Kindergärtnerin und einen Unternehmer, hat er immer gehalten. Vor einem Jahr starb sein Vater.

Daniel: "”In meiner Grabrede begriff ich, was für ein großer Teil er von mir ist. Er hat mir den Wert von Liedern beigebracht. Dass er, wenn er einen Traumjob hätte, ein Liedermacher wäre. Das ist die beste Art, Ideen zu konservieren. Eine perfekte Kommunikationseinheit, um Gefühle zu vermitteln, Geschichten zu erzählen, zur Erinnerung ...""

Dass er den Traum seines Vaters lebt, ist Kahn zu viel Gewicht auf den Schultern. Er ist noch in der Trauerarbeit, wie er meint. Es war ohnehin nicht leicht für seine Eltern, dass er so weit weg von ihnen wohnt. Dann auch noch Deutschland.

Daniel: "”Ich höre es immer wieder, wenn ich in den Staaten bin. Oh, wie kannst du nur in diesem Land leben! Ich wird’ nicht seinen Namen sagen ...""
Diese Beklemmungen spricht er in dem Lied "Six Million Germans" an. Und schon bei ihrem ersten Berlinbesuch haben seine Eltern gelernt, ihn zu verstehen. Durch Daniel Kahns Augen wird in der Fremde die Heimat erkennbar.

"Görlitzer Park ist eine Antwort auf ‚Six Million Germans’. Es ist ein Lied ohne Agression. Über meine Beziehung mit Berlin und in Berlin. Beides verbinde ich mit dem Park, der auf Ruinen gebaut wurde. Es ist ein schöner Park, er zeigt, dass nette Dinge aus Ruinen wachsen können."