Jesiden

Mit Mahnwachen gegen den Völkermord

Der Jeside Falar-Scharif Maschka steht vor seinem Infostand in Bielefeld
Auch in Bielefeld machen Jesiden auf die Verfolgung ihrer Glaubensgeschwister im Irak aufmerksam. © dpa / Oliver Krato
Von Kemal Hür  · 23.09.2014
Der selbsternannte "Islamische Staat" verfolgt und tötet Nicht-Muslime in Syrien und im Irak, betroffen davon sind vor allem die Jesiden - eine kurdische Minderheit mit einer 5000 Jahre alten eigenen Religion. Jetzt sind sie von einem Völkermord durch die IS-Terroristen bedroht.
Mahnwache am Potsdamer Platz in Berlin. Eine junge Jesidin steht am S-Bahn-Ausgang und ringt um Aufmerksamkeit. Ruft laut hinaus, mit welcher Grausamkeit die Kämpfer des selbst ernannten Islamischen Staates, IS, jeden Tag in Syrien und im Nordirak vorgehen. Andere junge Männer und Frauen der jesidischen Glaubensgemeinschaft verteilen in der Nähe eines kleinen überdachten Infostandes Flugblätter und sammeln Spenden - auch der 20-jährige Student Rejan.
"Hallo, dürfte ich Ihnen Infomaterial mitgeben. Es geht um die Jesiden im Nordirak. Sie haben bestimmt in den letzten Tagen in den Medien verfolgt, was dort passiert ist."
"Ja."
"Viele wissen nicht, was passiert ist, und viele schauen weg …"
"Schlaflose Nächte ohne Ende"
Die zwei Frauen, die Rejan anspricht, sind Touristinnen aus Süddeutschland. Sie stecken mehrere Münzen Kleingeld in die Spendendose, nehmen Flugblätter und laufen weiter. Rejan lebt seit 15 Jahren in Berlin und studiert Bauingenieurwesen. Viele seiner Verwandten leben im Nordirak. Seit Wochen kann er wegen der Bilder, die er in den Nachrichten sieht und hört, kaum schlafen, sagt er.
"Von meiner Tante der Sohn ist qualvoll auf dem Berg Sincar ums Leben gekommen. Er ist einfach verhungert bei 45 Grad. Das ist das Traurige, dieser qualvolle Tod, wenn Eltern mit ansehen müssen, wie die Kinder langsam und qualvoll ihr Leben verlieren. Und da sind ja Tausende, die betroffen sind. Das ist nicht mehr menschlich. Schlaflose Nächte ohne Ende für uns."
Rejan schaut kurz zur Seite und sieht Roza. Beide arbeiten zur Zeit daran, in Berlin einen jesidischen Jugendverein zu gründen.
Roza: "Rejan, ich kann am Sonntag leider nicht kommen."
Rejan: "Warum? Mensch, ich hab jetzt mit dir gerechnet. Ich hab extra für den Sonntag einen Raum gemietet. Wer kann dich jetzt ersetzen als unsere Protokollführerin?"
Als Teufelsanbeter verleumdet

In Berlin leben nur etwa 500 Jesiden. Deutschlandweit sind es schätzungsweise 100.000; die meisten von ihnen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Die 5000 Jahre alte Religion kennt keinen Gegenpart zu Gott. Es gibt also keinen Teufel. Deswegen dürfen Jesiden den Namen des Bösen nicht aussprechen. Genau das aber nahmen fanatische Muslime oft zum Anlass, Jesiden zu verfolgen und zu ermorden. Noch heute verleumden sie sie als Teufelsanbeter und meinen, sie würden den Namen des Teufels nicht aussprechen, weil sie ihn in Wahrheit verehren.
Rozas Eltern sind 1990 aus Südostanatolien nach Deutschland gekommen. Sie selbst ist hier geboren und studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt. Sie hat Verwandte in den kurdischen Gebieten der Türkei, im Irak und im nordsyrischen Rojava. Dort aber, sagt sie, kommen Zelte, Nahrungsmittel und Medikamente oft gar nicht an.
Viele Hilfsgüter kommen nicht an
"Die Hilfsgüter werden überwiegend in den irakischen Teil geschickt. Viele Flüchtlinge, über 200.000, sind aber in Nord-Syrien, in Rojava. In Rojava gibt es ja das Embargo, das heißt, von allen Seiten sind die Grenzen dicht. Vieles wird auch nach Erbil geschickt. In Erbil sind zwar auch Flüchtlinge, aber die meisten halten sich grad im nördlichen Teil Iraks auf und halt in Nord-Syrien, und da kommt sehr Vieles nicht hin."
Şükrü Güler: "Wenn Sie bitte diese Karte sich anschauen, ist hier eigentlich kurdisches Gebiet. Das heißt, Mossul, Shengal und andere Teile sind außerhalb der Verwaltung der kurdischen Regierung."
Şükrü Güler zeigt auf einer Landkarte, wo die IS-Terroristen die Jesiden angegriffen und viele von ihnen getötet haben – Männer, Frauen und Kinder. Güler ist Arzt und Vorsitzender des Kurdistan Kultur- und Hilfsvereins. Zusammen mit neun weiteren Ärzten hat auch er in den letzten Monaten Geld gesammelt. Dafür haben die Ärzte Medikamente gekauft und diese über die türkische Grenze gebracht, und dort zwei Wochen lang täglich 300 Flüchtlinge behandelt.
Eine Mutter muss ihre Kinder zurücklassen
Zurück in Deutschland erzählt er in einem Vereinsraum in Berlin-Kreuzberg von seiner Reise in den Nordirak. Roza und Rejan sitzen ein paar Tage nach der Mahnwache mit etwa 30 anderen Kurden im Raum und blicken auf die Fotos, die Güler auf eine Leinwand wirft. Menschen in karger Berglandschaft, erschöpfte Kinder im Schatten von Zelten, Frauen in einer Warteschlange für Trinkwasser. Als ein Foto von zwei gehbehinderten Kindern auf der Leinwand erscheint, versagt dem Arzt die Stimme. Eine Mutter flüchtete mit ihren fünf Kindern vor den IS-Milizen, erzählt Güler. Auf der Flucht muss sie eine Entscheidung treffen: Mit allen Kindern den IS-Barbaren in die Hände fallen, oder drei Kinder und sich retten?
"Eine ganz schwierige Entscheidung für diejenigen, die Kinder haben. Sie hat diese Kinder da gelassen und weggegangen. Und diese Kinder sind jetzt nicht mehr am Leben."

Viele im Publikum starren regungslos auf das Foto, einige haben wie Güler Tränen in den Augen.
Roza und Rejan spüren auch an diesem Nachmittag wieder, wie sehr ihre Glaubensgemeinschaft bedroht ist. Wieder einmal, flüstert Rejan, der genau wie Roza auf der einen Seite überzeugt davon ist, dass die weltweit 1,5 Millionen Jesiden, die in einem pyramidisch aufgebauten Kastensystem leben, die vielen Genozide und Massaker in ihrer Geschichte auch deshalb überlebt haben, weil sie eine so in sich geschlossene Gesellschaft sind.
Auf der anderen Seite aber müssen wir uns von innen reformieren, sagen beide. So zum Beispiel das Heiraten außerhalb der eigenen Kaste erlauben.
Viele wünschen sich Reformen
Roza: "Die Jugend hier in Deutschland wünscht sich auf jeden Fall Reformen und Änderungen. Ich kenne das von vielen Bekannten und Verwandten, dass man sich das wünscht. Und es ist nicht nur die Jugend, sondern auch Ältere. Zum Beispiel gibt es auch einen Würdenträger im Nordirak, der das verlangt und auch in Kommunikation ist mit der Heiligstätte Lalish. Wir erfahren halt Gewalt von außen und müssen innerhalb unserer Strukturen diese Grenzen, die wir selbst erschaffen haben, aufbrechen."
Jemanden anderes als einen Jesiden zu heiraten aber, schließen beide kategorisch aus. Denn das würde zum Aussterben der Jesiden führen, sind sich beide einig.
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