Verfassungsreferendum in der Türkei

Der paternalistische Blick auf die Deutschtürken

Eine Person hat zwei Pässe in der Hand: links einen deutschen, rechts einen türkischen
Tunay Önder: "Einem Freund-Feind-Schema folgend, werden die Eingewanderten, ihre Kinder und Enkel in Gut und Böse eingeteilt." © imago / Sven Simon
Von Tunay Önder · 11.04.2017
Vor dem Verfassungsreferendum in der Türkei ist die Meinung von Deutschtürken gefragt: Welche Folgen könnte das Ergebnis für die Community haben? Auch die Soziologin und Bloggerin Tunay Önder soll sich in diesen Tagen immer wieder äußern, aber sie ist misstrauisch.
Seit über 50 Jahren wird die politische Mitsprache von Eingewanderten aus der Türkei durch das bestehende Wahl- und Staatsbürgerschaftsrecht systematisch verhindert. Aus diesem Grunde herrscht hierzulande die Tradition über Deutschtürken zu sprechen, anstatt sie selbst sprechen zu lassen. Bis heute hat sich daran - mit wenigen Ausnahmen - nicht sehr viel geändert. Es irritiert mich daher, dass mit dem anstehenden Referendum in der Türkei die politische Meinung der Deutschtürken schlagartig an Bedeutung gewonnen hat.

Referendum mit Nachspiel

Als Kind türkischer Einwanderer wird man den Eindruck nicht los, dass sich hier eine Kontinuität des Blicks auf Eingewanderte aus der Türkei zeigt. Wie gewohnt werden wir als problematisch, nicht vertrauenswürdig und demokratiefern konstruiert. Einem Freund-Feind-Schema folgend, werden die Eingewanderten, ihre Kinder und Enkel in Gut und Böse eingeteilt: Alle potentiellen AKP-Wähler aus Deutschland werden mit Verweis auf Erdoğans Politik handstreichartig disqualifiziert.
Entweder man ist für Erdoğan und damit undemokratisch, oder man ist gegen ihn und gilt als integriert und demokratisch. Das führt zu einem Zerrbild, der vor allem den Rassisten in Deutschland dient und Islamfeindlichkeit sowie Türkenhass schürt. Damit wird auch jeglicher Solidarität mit der größten, rechtlich, sozial und wirtschaftlich deklassierten Minderheit in diesem Land der Boden entzogen.

Nur Nein-Sager gelten als gute Demokraten

Das Referendum scheint Vielen der perfekte Anlass zu sein, um ihren Türkenhass als Liebe zur Demokratie zu verkaufen und den ohnehin argwöhnischen Blick auf die Deutschtürken zu bekräftigen. Das Referendum wird dabei zum Demokratietest stilisiert, bei dem die Wahlberechtigten beweisen müssen, ob sie überhaupt demokratiefähig sind. Das rege Interesse dient quasi als Einfallstor für politische Zwecke, nämlich der Ausgrenzung.
Auf diese Weise können vorenthaltene Bürgerrechte gegenüber Deutschtürken bestens legitimiert und die Integrationsforderung viel repressiver als alleinige Bringschuld an die Deutschtürken gerichtet werden. Mehr noch: Im Zuge dieser Debatte steht plötzlich wieder der Doppelpass zur Disposition, eine der wenigen Errungenschaften im Kampf für die gesellschaftliche Akzeptanz der Eingewanderten und ihrer Nachfolgegenerationen. Dass in diesem politisch-sozialen Klima dann auch eindeutige Diskriminierungen wie das faktische Kopftuchverbot am Arbeitsplatz durch den EuGH und die mangelhafte Aufklärung der NSU-Morde nicht zu einem öffentlichen Aufschrei führen, versteht sich dann fast von selbst.

Legitimation für Ausgrenzung

Diejenigen Deutschtürken, die potentiell die AKP wählen, sind Muslime. Sie gehören also zu jener Gruppe, die in hohem Maße von Ausgrenzung, Bevormundung und Rassismus betroffen ist. Daher ist nichts gewonnen, wenn die aktuelle Debatte den problem- und defizitorientierten Umgang mit Türken fortführt und diese Menschen in gewohnter Weise als zu religiös, traditionell, unaufgeklärt und letztlich demokratiefeindlich diffamiert - und das alles auf eine angeblich andersartige Kultur zurückführt.
Vielleicht ist es genau dieser paternalistische Blick und dieser sich immerzu wiederholende Diskurs, warum einige hierzulande Erdoğan befürworten, obwohl sie vielleicht gar keine überzeugten Anhänger seiner Partei oder des Referendums sind. Es ist höchste Zeit für einen offenen Diskurs auf Augenhöhe, der auch solche Zusammenhänge berücksichtigt.

Tunay Önder, 1981 in München geboren, studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Ethnologie in Heidelberg und Istanbul. Im Focus ihrer politischen und künstlerischen Auseinandersetzung steht das postmigrantisches Leben in Deutschland. Seit 2011 bloggt sie auf dasmigrantenstadl, auf dem es mal dadaistisch-verrückt, mal ganz seriös, aber immer politisch um migrantische Belange in Deutschland geht. 2016 veröffentlichte sie gemeinsam mit Imad Mustafa das gleichnamige Buch im Unrast Verlag. Letzte Buchveröffentlichung zusammen mit Mortazavi/Umpfenbach: "Urteile. Ein dokumentarisches Theaterstück über die Opfer des NSU in in München. Mit Texten über alltäglichen und strukturellen Rassismus" (Unrast, 2016)

Mehr zum Thema