"Verehrter, lieber Herr Suhrkamp!..."

Von Christian Gampert · 22.02.2011
Wie eng und produktiv das Verhältnis zwischen dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch und seinem Verleger Peter Suhrkamp war, lässt sich an der Entstehungsgeschichte von Frischs "Tagebuch 1946 - 1949" besonders gut nachvollziehen. Das Insel-Suhrkamp-Archiv in Marbach hat dem Tagebuch jetzt eine ganze Ausstellung gewidmet.
"Verehrter, lieber Herr Suhrkamp! Allem voran: ich fühle mich herrgöttlich wohl, sei es draußen am Strand, wo mich der nackte Mensch besonders in der weiblichen Ausgabe entzückt, oder hier in Ihrem großen Arbeitszimmer, wo ich die erste Tageshälfte verbringe…"

So schreibt es Max Frisch am 20.Juli.1949 an seinen Verleger Peter Suhrkamp, der ihm sein Ferienhaus auf Sylt als Arbeitsdomizil zur Verfügung gestellt hat. Dort legte er letzte Hand an sein "Tagebuch 1946 – 49", mit dem Suhrkamp das Programm seines neuen Verlages 1950 eröffnen sollte.

Frisch hatte den todkrank aus dem KZ entlassenen Suhrkamp 1947 bei der Premiere von Zuckmayers "Des Teufels General" in Frankfurt kennengelernt – und fungierte fortan als Verbindungsmann zu dem aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Bertolt Brecht, der zunächst nur ein Visum für die Schweiz hatte und in Zürich residierte, wie Frisch auch. Der junge Frisch bewunderte den Erfinder des epischen Theaters – vor allem seine Bereitschaft, den Text notfalls auf der Probe immer neu zu bearbeiten. Andererseits grenzte er sich von dessen persönlicher und politischer Dogmatik scharf ab. Bei Frisch finden sich köstliche Schilderungen eines Schwimmausflugs an den Zürichsee, wo der Dialektiker Brecht keinen Blick für die Schönheit der Landschaft hat, nur kurz ins Wasser geht und dann, bereits wieder in Mütze, Joppe und mit Zigarre, wortreich die kühle Erfrischung lobt…

Frisch war zu jenem Zeitpunkt hauptberuflich Architekt, er baute sinnigerweise ein Schwimmbad. Und er war im Begriff, sich als Schriftsteller krisenreich neu zu erfinden, das Konventionell-Realistische seiner frühen Bücher hinter sich zu lassen. Seine beiden Wegbegleiter dabei waren Brecht – und eben Suhrkamp, der Deutschland nach dem Nazi-Vakuum wieder an die Weltliteratur anschließen wollte und dem das Anti-Romantische des jungen Schweizers gefiel.

Frischs "Tagebuch", zu dem hier Briefe und Typoskripte ausgestellt sind, ist das Werk einer gefühligen, selbstzweiflerischen, außen stehenden Beobachtungs-Maschine, und sein Nährboden ist die Nachkriegszeit – so sieht es der Ausstellungs-Kurator Jan Bürger:

"Also der Nachkrieg einmal als fürchterliches Zerstörungsereignis, was er eben auch gesehen hat – er war einer der ersten, die angefangen haben, sich Lager anzugucken und darüber zu schreiben. Aber auch, und das kann man wahrscheinlich nur als Schweizer so machen, der Nachkrieg ganz klar als eine Chance. Also ein Raum, der ist total unbürgerlich, der ist anarchisch, da ist alles in Trümmern, aber man kann irgendwas Neues anfangen. Man kann ästhetische Neu-Entwürfe machen. Im Grunde ist das schon diese Stiller-Idee: man kann sagen, jetzt fang ich nochmal ein neues Leben an. Oder muß es sogar neu anfangen."

Frisch fährt nach Theresienstadt, Frisch beschreibt zerbombte deutsche Städte, Frisch ist beim Kongreß antifaschistischer Intellektueller 1948 in Warschau. Ansonsten sitzt er in Zürich im Café und notiert Eindrücke. Ein neues Genre, objektivierte Selbstsuche, irgendwas zwischen Drama und Roman. "Tagebuch" ist eigentlich ein Etikettenschwindel. Es gibt keine Chronologie, alles Persönliche ist auf Anregung Suhrkamps getilgt.

"Frisch hat Tagebuch für sich sofort schon als Kunstform definiert. Interessant ist, daß es eine Vorform dieses Buches schon in einer Schweizer Veröffentlichung gab, die 1947 herauskam. Das ist das sogenannte "Tagebuch mit Marion". Marion ist eine Männerfigur, so eine Art Spiegelfigur des Autors. Da ist noch klar die Roman-Nähe über dieses Dialogische definiert."

Der Puppenspieler Marion ist natürlich eine Kleist-Paraphrase, allerdings rutscht ihm bei Frisch psychotisch die Identität weg: die Menschen, "die Marion sieht, bewegen sich nicht mehr von innen heraus, sondern ihre Gebärden hingen an Fäden…". Das Leben wird als "laufendes Band" gesehen, "es gibt keine Hoffnung, etwas nachholen oder verbessern zu können". Es gibt allerdings die Möglichkeit, sich neu zu erfinden – wie Stiller es versucht. Fast alle Motive des späteren Werks von Frisch sind in diesem frühen Tagebuch schon angelegt, angedeutet, "Andorra" als Modellfall des Antisemitismus, "Du sollst dir kein Bild machen" als Verbotstafel für eine jede Liebesbeziehung. Seltsamerweise hat Frisch schon im Nachkrieg ein Vorahnung dessen, was man später als Postmoderne bezeichnen wird: "Man hält die Feder hin (heißt es im "Tagebuch") wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen. Was selten ein reines Vergnügen ist; man erschrickt auf Schritt und Tritt…"

Das Deutsche Literaturarchiv zeigt nun Briefe und die Arbeit am Manuskript, und das heißt: es zeigt die Beziehung zwischen Autor und Lektor – in einer besonders gelungenen und intellektuell-herzlichen Variante. Peter Suhrkamp ist ein selbstlos-aufmerksamer Partner und Ratgeber, Frisch streicht, formuliert um, stellt die ganze Architektur des Buches auf den Kopf. Jan Bürger:

"Da wird tatsächlich nach Abgabe des Manuskripts noch enorm gearbeitet. Da werden ganze Seiten rausgestrichen, es wird der Text umstrukturiert, es wird an einzelnen Formulierungen geschliffen. Man denkt über den Titel nach. Es steht im Grunde alles noch mal auf dem Prüfstand."

Eines allerdings wird den Ausstellungsbesucher wahrscheinlich ebenso verwundern wie den Kurator Jan Bürger: daß man den Stiller-Roman, 1954 erschienen, eventuell ganz anders – und viel politischer – lesen kann…

"Ich hab mich einen Moment lang gefragt, und das steht auch in meinem Essay drin, ob so ein Satz wie "ich bin nicht Stiller", dieser Wunsch, die eigene Biographie neu zu erfinden, für den Schweizer, der das aus eher privaten Motiven macht, etwas ganz Anderes ist als für den Deutschen, der das dann liest. Weil für die Deutschen, die mit der Nazi-Vergangenheit umgehen mußten, oder auch vielleicht mit einem Opfer-Trauma, bedeutet das natürlich etwas ganz anderes zu sagen: ich bin gar nicht der…ich fang nochmal neu an. Das bekommt ne ganz andere Wucht, ne ganz andere Dimension. Das wird viel politischer, als es der Autor beim Schreiben vermutet hat."
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