Verdorbene Kindheit – verlorene Existenz

Von Astrid von Friesen · 16.04.2010
Eine repräsentative Untersuchung besagt: Jedes zweite Kind zwischen 6 und 18 Jahren war schon einmal in Therapie, bei Sprach-, Ergo- oder Bewegungstherapeuten, jedes zehnte Kind in psychotherapeutischer Behandlung. Wenn Kinder mehr als zwei Stunden täglich vor den Medien hocken, sind sie häufiger behandlungsbedürftig als Kinder, die seltener vor der Glotze sitzen.
Kinder im Westen leiden zudem häufiger unter Rückenschmerzen, Asthma, Übergewicht und Konzentrationsstörungen als ostdeutsche Kinder. In Großbritannien fürchten Forscher bereits, dass in 25 Jahren jeder zweite Brite extrem übergewichtig sein wird, was höhere Kosten verursacht als der Klimawandel.

Fantasieren wir einmal einen fettsüchtigen 25-jährigen jungen Mann mit Knie- und Herzproblemen, der keine Freundin findet, alle Ausbildungen nach der Hauptschule abgebrochen hat und als Hartz-IV-Empfänger vor dem Computer vegetiert, aber einen wütenden Moment hat, in dem er seine Eltern und die Gesellschaft anklagt.

Diese Anklage könnte sich folgendermaßen anhören: "Was habt Ihr mit uns gemacht? Warum habt Ihr mich das ganze Zuckerzeug und alle fetten Pizzas essen lassen? Warum habt Ihr mich ab dem sechsten Lebensmonat vor den Fernseher gelegt und damit die Ausbildung von Synapsen blockiert? Warum mich zum Bewegungsmuffel erzogen, verhindert, dass ich bastele und lerne, spiele und lerne, lese und lerne? Warum habt Ihr mir nie vorgelesen, Bücher konnte man in der Bibliothek doch umsonst ausleihen. Deswegen heute meine Pein beim Selberlesen.

Warum habt Ihr – wie 50 Prozent aller deutschen Eltern – mit mir als 15-Jährigem nicht gesprochen, was ungarische Eltern mehrfach in der Woche tun? Und mit mir als Kind nur gemeckert, nie erzählt, deswegen musste ich in die Logotherapie. Wie 40 Prozent aller Schulanfänger hatte ich Sprachentwicklungsstörungen, warum habt Ihr nicht mit mir geredet, mich nie nach etwas gefragt? Einsam hat es mich gemacht und deswegen habe ich noch mehr gefuttert. Und dick war ich, weswegen niemand mit mir spielen wollte. Habt Ihr das nicht gesehen? War ich euch so egal?

Warum seid Ihr nie mit mir und meinen Geschwistern in den Wald gegangen, wo wir umsonst hätten spielen können, Erfahrungen machen können mit Bäumen und Blumen, Käfern und dem Wind, mit Budenbauen und klettern, mit Bächen und Fischen. Ich habe niemals Sterne direkt gesehen, außer durchs Fenster oder im Fernsehen. Warum hat mir, wie einem Viertel aller Viertklässler, niemand das Fahrradfahren beigebracht, damit ich Kondition und Geschicklichkeit entwickle, warum niemand das Schwimmen?

Warum habt Ihr mir keine Manieren beigebracht, als ich noch klein war? Ich weiß, dass ich respektlos wurde, aber dann war es zu spät und ich hatte schon meine Lehrstellen verloren. Denn ich hatte solche Wut auf alle Erwachsenen. Warum habt Ihr mir keine Regeln und keine Disziplin abverlangt, als Kind hätte ich die doch noch gut lernen können.

Warum gab es damals keine Nachmittagsprogramme in der Schule, ich hätte doch so gerne Theater gespielt oder Sport gemacht. Das ging zu Hause alles nicht. Warum durfte ich kein Musikinstrument lernen, worauf ich hätte stolz sein können, obwohl ich so fett war. Warum musste ich in Therapien, aber meine Eltern nicht? Warum habt Ihr euch keine Hilfe organisiert, als ich immer verzweifelter und aggressiver wurde?

Warum haben die Kindergärtnerinnen und Lehrer mich alleine gelassen, nie was meinen Eltern gesagt oder von ihnen wirklich gefordert, dass sie sich ändern. Ich war ihnen doch ausgeliefert. Warum habt Ihr Erwachsenen mein Leben so ruiniert?"

So könnte es klingen, wenn ein unglücklicher, wohlstandskranker 25-Jähriger zurück blickt auf sein früh verpfuschtes Leben und wütend Fragen stellt.

Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Erziehungswissenschaftlerin, Journalistin und Autorin sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg. Sie unterrichtet an der TU Bergakademie Freiberg und macht Lehrerfortbildung. Zwei Ihrer letzten Bücher: "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener" (Psychosozialverlag 2000) sowie "Von Aggression bis Zärtlichkeit. Das Erziehungslexikon" (Kösel-Verlag 2003). Zuletzt erschien "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus. Frustrierte Frauen und schweigende Männer" (Verlag Ellert & Richter 2006).
Astrid von Friesen
Astrid von Friesen© privat