Verbrechen und Strafe in der Literatur

Alles Gauner

Der Yuppie Patrick Bateman (Christian Bale) entspannt sich im neuen Kinofilm "American Psycho" (Szenenfoto) nach einer anstrengenden Nacht. Bateman hat eine äußerst gepflegte Erscheinung, Manieren wie ein Gentleman, ist wohlhabend und sympathisch. Trotzdem er sich in den New Yorker Mikrokosmos des Koksens, Gelddruckens und Konsumbadens perfekt eingegliedert hat, umgibt ihn ein dunkles Geheimnis: Er ist ein Serienkiller.
Der Yuppie Patrick Bateman (Christian Bale) entspannt sich im neuen Kinofilm "American Psycho" (Szenenfoto) nach einer anstrengenden Nacht. © picture alliance / dpa / Concorde
Von Arno Orzessek · 19.04.2016
In der Literatur wird nicht mit dem richtigen Strafmaß gemessen, wenn es um Kriminalität geht. Literaten interessiert an Verbrechen das Motiv, die Psyche des Verbrechers oder das Spiel zwischen Individuum und Gesellschaft.
Um Verhältnismäßigkeit hat sich der Schöpfer laut Genesis nicht groß geschert.
Kaum hatten Adam und Eva auf Zuraten der Schlange den Apfel vom verbotenen Baum verputzt, hagelte es drastische Strafen:
Deportation aus dem Paradies, Geburtsschmerz für Eva und die Frauen, für Adam und die Männer Geplagtheit im Job und für alle − der Tod.
Zitat: "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst Erde werden."
Berufung gab's keine. Deshalb erscheint die weitere Geschichte der Menschen in der Bibel als kollektiver Strafvollzug - was der modernen Abneigung gegen Kollektivstrafen schwer zuwiderläuft.

Kreon ist von blankem Hass beseelt

Uns etwas näher: Antigone, die antike Tragödie von Sophokles.
Kreon lässt als Diktator von Theben seine Nichte Antigone lebendig einmauern. Und zwar, weil sie ihren Bruder Polyneikes, einen gefallenen Feind der Stadt, trotz Kreons Verbot begraben hat.
Während Kreon, von Unheil zerrüttet, die krasse Strafe wieder aufheben will, verherrlicht der Chor die Autonomie der unschuldig-schuldigen Antigone, die sich in ihrem Grabbau erhängt.
Zitat: "Nach eignem Gesetz, wie keiner der Sterblichen, schreitest du lebend hinab zum Hades. [...] Und hast doch Großes erlost: Gehst unter, gerühmt wie Gott schon lebend und künftig im Tod."
Laut Hegel, dem Philosophen, kollidieren bei Sophokles das Recht des Staats und die sittliche Macht der Familienliebe - und Antigone muss tragischerweise bezahlen. Für Goethe dagegen ist Kreon von blankem Hass beseelt.

Der Prinz wird begnadigt

Aber ob so oder so: Um formal-juristisch korrektes Strafmaß kümmert sich Literatur, Kriminalromane inklusive, eher selten.
Es geht um Motive und Verantwortung, Individuum versus Gesellschaft, Psychologisches und Allzumenschliches - und oft bleibt alles vieldeutig, wie in Goethes Faust 1: Während Mephistopheles über die zum Tode verurteilte Faust-Geliebte und Kindesmörderin Margarete urteilt "Sie ist gerichtet!", widerspricht eine "Stimme von oben": "Ist gerettet!"
Das Werk Heinrich von Kleists wird regelrecht beherrscht vom Schuld-und-Sühne-Komplex. Prinz Friedrich von Homburg verstößt im gleichnamigen Drama, schuldlos verwirrt, gegen einen Befehl - und rebelliert zitternd gegen die Strafe.
Zitat: "Gott des Himmels! / Seit ich mein Grab sah, will ich nichts als leben, / Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei!"
Dem Prinzen wird Begnadigung zugesagt, wenn er das Urteil für ungerecht erklärt. Da ändert er plötzlich seine Meinung:
Zitat: "Ich will das heilige Gesetz des Krieges, / Das ich verletzt, im Angesicht des Heers, / Durch einen freien Tod verherrlichen! / [...] Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein."
Tatsächlich wird der Prinz resozialisiert... Aber dass sich Täter unters Gesetz beugen und welche Strafe auch immer akzeptieren, kommt in der Höhenkamm-Literatur oft vor.

Der Snob mordet notorisch

Billy in Herman Melvilles Billy Bud, Raskolnikov in Fjodor Dostojewskis Verbrechen und Strafe, sogar der gleichgültige Mörder in Albert Camus' Der Fremde: Alle lenken irgendwann ein - als hätten sie Michel de Montaigne gelesen:
Zitat: "Die Gesetze genießen ein dauerhaftes Ansehen und verfügen über einen Kredit, nicht etwa weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind: das ist der mystische Grund ihrer Autorität."
Man nennt das Rechtspositivismus. - Den Autoritätsverlust aller Gesetze beleuchtet dagegen Brett Easton Ellis' "American Psycho".
Niemand will dem snobistischen Schlächter Bateman glauben, dass er notorisch mordet. Die materialistische Gesellschaft hat jedes Sensorium für Schuld verloren. Strafe? Interessiert keinen.
Dass Bestrafung umgekehrt selbst zur Straftat werden kann, zeigt Franz Kafkas Folter-Erzählung In der Strafkolonie, in der das zynische Motto gilt: "Die Schuld ist immer zweifellos." -
Und was ist nun eine gerechte Strafe? Nach Robert Musil vor allem ein weites Feld:
Zitat: "Es ist schwer, der Gerechtigkeit in Kürze Gerechtigkeit widerfahren zu lassen."
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