Verbotene Lektüre

Die Mauer war auch eine Barriere für Literatur
Die Mauer war auch eine Barriere für Literatur © Deutschlandradio
Von Mareike Gries · 27.09.2007
In der DDR standen zahlreiche Bücher und Zeitschriften auf dem Index. Doch für viele Literaturinteressierte war genau das, was vom Regime verboten wurde, besonders interessant. Die Konferenz "Der heimliche Leser in der DDR" hat sich mit diesem dunklen Kapitel der DDR-Geschichte beschäftigt.
Heute kann man fast darüber schmunzeln, über die Oma aus dem Westen, die die Schuhe für den Enkel im Osten in die "Bild-"Zeitung eingewickelt hat, damit der Schwiegersohn auch noch was davon hat. Oder über die Tante, die die Fußballzeitschrift "Kicker" in ihr Korsett eingenäht hat, um sie dem Neffen in Leipzig zu schenken. Solche und ähnliche Geschichten werden immer wieder erzählt, bei der Konferenz des heimlichen Lesers. Oft sind diese Schmuggelaktionen glimpflich ausgegangen, viele Leser sind dafür allerdings auch ins Gefängnis gewandert. Zeitzeugen und Historiker treffen jetzt in Leipzig erstmals aufeinander. Für Dr. Siegfried Lokatis, Professor für Buchwissenschaft an der Uni Leipzig und Organisator der Konferenz, ist der Austausch zwischen Zeugen und Forschern das wichtigste.

"Heute muss man sagen, es handelt sich um eine bedrohte Erinnerung, wie kostbar das Wort sein konnte, wenn die Bücher verboten sind und ausgegrenzt werden. Wir reden über eine Zeit, wo Texte auswendig gelernt wurden, (…) wo es keine Kopiergeräte gab und Schreibmaschinen sogar observiert worden sind. (…) Und ich denke, dass das gerade in unserer Zeit der Informationsüberflutung eine wichtige Erfahrung ist, wie man dieses kostbarste Gut der Pressefreiheit beschützen muss."

Die nicht vorhandene Pressefreiheit hat sich in der DDR ganz unterschiedlich bemerkbar gemacht. So durfte beispielsweise die Geschichte der, laut DDR-Regierung, viel zu anarchistischen Pippi Langstrumpf zwar gelesen, lange Zeit aber nicht gedruckt werden. Als es endlich eine Druckgenehmigung für das Buch gab, kam es nur mit vielen Auslassungen und in geringer Stückzahl auf den Markt. Der "Wachtturm" der Zeugen Jehovas war hingegen seit 1950 verboten und blieb es bis 1989. Also haben die Gläubigen einzelne Seiten zum Beispiel in ausgehöhlten Backpflaumen versteckt oder im Dach eines Kleinbusses verschweißt. Wer dabei erwischt wurde, landete in der Regel im Gefängnis, und zwar für mehrere Jahre. Auch Baldur Haase saß über zwei Jahre im Gefängnis. Ende der 50er Jahre hatte ihm ein westdeutscher Brieffreund eine Ausgabe von George Orwells "1984" geschickt.

"Ich geh also am 13. Januar 1959 zur Arbeit in die Druckerei, nichts ahnend, stehen plötzlich zwei Herren neben mir, in zivil, fragen, ob ich der Herr Haase bin, ich sage ja. Ja, Sie müssen mitkommen, zur Klärung eines Sachverhalts und draußen haben sie mir dann die Handschellen angelegt."

Es kommt zur Verhandlung und Baldur Haase wird für zwei Jahre und drei Monate inhaftiert. Erst 1993, 30 Jahre nach seiner Freilassung, hat Baldur Haase in seiner Stasiakte gelesen, wie das Ministerium für Staatssicherheit auf ihn aufmerksam wurde.

"Die Staatssicherheit hat (…) eine inoffizielle Postkontrolle gegen mich eingeleitet. Das heißt, das Paket, in dem dieses Buch war, kam Anfang Juni, ist also bereits von der Staatssicherheit geöffnet worden, die haben das Buch entdeckt, fotokopiert und das ganze Buch an mich weitergeschickt. Und das war eine Falle der Staatssicherheit, in die ich hineingetappt bin. Die haben also beobachtet, was wird der Haase mit diesem Buch anfangen."

Baldur Haase denkt heute, dass ihm unterstellt wurde, er wolle eine Untergrundorganisation gründen. Dabei hat er sich nur mit seinem Brieffreund über Orwell ausgetauscht und darüber, welche Ähnlichkeiten dessen Schilderungen mit dem Leben in der DDR haben. Baldur Haase, damals gerade 19 Jahre alt, hat nie daran gedacht, dass die Stasi jede seiner Briefzeilen mitlesen würde.

Auch einer dieser heimlichen Mitleser berichtet bei der Konferenz über seine Erfahrungen. Gerd Reinicke war bei der Postkotrolle in Rostock, im sogenannten Referat Auswertung und Information. Auf seinem Schreibtisch sind jeden Tag dutzende geöffneter Briefe gelandet, die der Stasi mehr oder weniger verdächtig schienen.

"Das lächerlichste Beispiel kann ich immer anführen, die Neutextung von 'Sing mein Sachse sing'. Damals ein großer Schlager gewesen und da wurde eben umgedichtet 'Schwimm mein Sachse schwimm'. Jedenfalls wurde das von Mielke persönlich als staatsfeindlich eingestuft und wenn jemand diesen Text im Brief beilegte, sollten wir das unterbinden. Das heißt, der komplette Brief wurde konfisziert. Wir kannten das Lied vorher nicht und jetzt kannten wir es dann doch, haben auch darüber gelacht und es öfter mal übersehen, wenn es dabei war."

Im Einzelfall konnte Reinicke so etwas relativ leicht übersehen. Als Mitte der 80er Jahre jedoch immer mehr Schriften über die kirchliche Friedensbewegung seinen Schreibtisch passiert haben, ist sein Unbehagen gewachsen. Weil er wusste, dass die Autoren dieser Texte Recht hatten, hat Reinicke 1985 um seine Entlassung gebeten.

"Dass dahinter Personen standen, die auch handschriftlich geschrieben haben, was auch sehr persönlich war, das machte mich auf Dauer irgendwie mürbe. (…) Ich habe selber um meine Entlassung gebeten. (…). Das war einfach nicht vorgesehen und man suchte wochenlang irgendeinen Grund, mir irgendwas anzuhängen. Fand dann eben heraus, dass ich ideologisch aufgeweicht bin und knieweich und kapituliere und dem Feind damit in die Hände spiele und irgendwo stimmte das ja auch."

Die letzten vier Jahre der DDR waren für Gerd Reinicke damit ein einziger Spießroutenlauf. Freunde haben sich von ihm abgewendet und lange hat er keinen Job gefunden. Heute arbeitet Reinicke bei einer christlichen Organisation und spricht offen über seine Stasivergangenheit. Damit ist er allerdings der einzige Ex-Spitzel, der der Einladung gefolgt ist, zur Konferenz des heimlichen Lesers in der DDR.