Verbot der Beschneidung "de facto ein Religionsausübungsverbot" für Juden

Renate Konrad im Gespräch mit Ayala Goldmann · 29.06.2012
Von der Antike bis zur Neuzeit habe es viele Versuche gegeben, die Brit Mila, die Beschneidung, zu verbieten und das Judentum in seinen Grundfesten zu erschüttern, sagt die Ärztin Renate Konrad. Das habe bislang nicht geklappt und sie sei auch für die Zukunft optimistisch.
Ayala Goldmann: 99 Jahre alt war Abraham, so erzählt es die Bibel, als Gott zu ihm sprach: "Ihr sollt am Fleisch eurer Vorhaut beschnitten werden. Das soll ein Zeichen des Bundes sein zwischen mir und euch. Jedes Männliche von euren Nachkommen soll bei euch beschnitten werden, wenn es acht Tage alt ist". Kapitel 17 des 1. Buch Mose - eine Aufforderung zur Körperverletzung? So interpretiert es offenbar das Landgericht Köln: In einem Urteil, das diese Woche bekannt wurde, hat das Gericht die religiös motivierte Beschneidung von Jungen für illegal erklärt. Ein "beispielloser und dramatischer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften", kritisiert der Zentralrat der Juden - und fordert den Bundestag zum Handeln auf. Auch der Zentralrat der Muslime und die Deutsche Bischofskonferenz haben scharf protestiert. Ich habe vor Beginn der Sendung mit Dr. Renate Konrad gesprochen. Sie ist Urologin und arbeitet als Mohelet, als Beschneiderin, für die jüdische Gemeinde in Weiden in der Oberpfalz.

Goldmann: Frau Konrad, Sie sind praktizierende Jüdin und Ärztin - und haben schon viele männliche Säuglinge beschnitten. Der Brit, hebräisch für "Bund", ist aus dem Judentum seit Jahrtausenden gar nicht wegzudenken. Hatten Sie bei Ihrer Arbeit jemals das Gefühl, dass Sie sich der Körperverletzung schuldig machen?

Renate Konrad: Nein, das Gefühl hatte ich bei einer religiösen Beschneidung noch nie. Ich bin vielmehr immer tief ergriffen davon, dass ich ein jüdisches Kind in den Jahrtausende alten Bund mit Gott bringen darf.

Dazu möchte ich aber erklären, dass eigentlich der Vater des Kindes halachisch verpflichtet ist, die Brit Mila am achten Tag bei seinem Kind durchzuführen. Aber dies ist mittlerweile an einen Fachmann oder eine Fachfrau delegiert worden, und wenn der Vater dies nicht tut, hat er den Bund mit Gott gebrochen und sich damit von der jüdischen Gemeinschaft abgetrennt. Das ist eines der schlimmsten Vergehen im Judentum. Erst mit der Religionsmündigkeit des Kindes, mit 12 Jahren, wird der Vater aus dieser Verantwortung entlassen.

Goldmann: Sie haben gesagt, es ist in die Hände eines Fachmannes oder einer Fachfrau übergegangen. Es ist zunehmend üblich geworden, dass Ärzte die Beschneidung durchführen und nicht der Mohel. Können Sie denn kurz erläutern, wie das konkret funktioniert -die Beschneidung eines acht Tage alten Jungen? Wie machen Sie das?

Konrad: Also, die Brit Mila besteht aus drei wesentlichen Bestandteilen. Es wird zunächst die Vorhaut gelöst, dann wird die Vorhaut, die die Eichel bedeckt, entfernt - das ist die eigentliche Brit Mila. Und das Blut, was austritt, wird aus der Circumcisionswunde entfernt. Und es ist mittlerweile Standard, eine Salbe aufzutragen, die lokal betäubend ist. Und der ärztliche Mohel hat den Vorteil, dass er auch eine lokale Betäubung mittels eines Nervenwurzelblocks anwenden darf. Denn ein acht Tage altes Kind empfindet natürlich bereits Schmerzen. Die Schmerzempfindung ist aber wohl noch nicht so differenziert wie später. Und um den achten Tag ist erstaunlicher Weise die Blutgerinnung am leistungsfähigsten. Auch die Wundheilung in diesem Alter ist sichtbar schneller als später.

Goldmann: Gibt es denn dennoch Fälle, in denen man auf eine Beschneidung verzichtet? Man sieht das Kind und sagt, es ist möglicherweise zu klein, oder es ist nicht gesund - muss die Beschneidung dann verschoben werden?

Konrad: Ja, natürlich. Das Leben des Kindes ist immer im Vordergrund. Und man muss die Brit Mila verschieben, wenn das Kind krank ist oder eine Frühgeburt, die noch zu wenig wiegt, wenn eine erbliche Gerinnungsstörung vorliegt oder eine andere Gefahr für die Gesundheit des Kindes vorliegt.

Goldmann: Eine der Fragen, die im Zusammenhang mit der Beschneidung immer wieder diskutiert wird, ist die Überlegung, ob das sexuelle Empfinden des erwachsenen Mannes beeinträchtigt wird, wenn er als Junge beschnitten wurde. Was wissen Sie darüber?

Konrad: Ach, man kann viele Vorteile und Nachteile postulieren, je nachdem, was man für Ideologien im Hintergrund hat. Es gibt Milliarden von Diskussionen über mögliche positive und negative Auswirkungen auf das Sexualleben. Realistisch ist, dass ein befriedigendes Sexualleben von vielen Dingen abhängt, und das Vorhandensein oder die Abwesenheit der Vorhaut ist da sicher marginal. Aber ich finde, man soll sich hüten, diese rationalen Gründe heranzuziehen, um die religiöse Motivation und die Verpflichtung für die Brit Mila zu untermauern. Das bringt in diesem Bereich nicht viel. Wir führen die Brit Mila durch, nicht weil sie gesund ist und zu einem tollen Sexualleben führt, sondern weil wir von Gott dazu verpflichtet wurden. Die entsprechende Passage aus der Tora haben Sie in ja in der Anmoderation bereits zitiert.

Goldmann: In dem Fall, der vor dem Landgericht Köln verhandelt wurde, ging es ja um einen muslimischen Jungen, einen Vierjährigen. Und das Landgericht Köln meint, der Körper dieses Kindes würde durch die Beschneidung so verändert, dass er später, wenn er erwachsen ist, nicht mehr frei entscheiden könnte über seine Religionszugehörigkeit. Können Sie diesen Standpunkt nachvollziehen?

Konrad: Nein, das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, das ist eigentlich ein entsetzlicher Standpunkt. Der Junge kann sich doch im Prinzip vom Islam abwenden und eine andere Religion annehmen, ohne dass die fehlende Vorhaut dabei störend wirken kann. Nach dieser Gerichtseinschätzung müsste dann der Umkehrschluss sein, dass ein beschnittener Nichtjude oder Nichtmoslem sich durch die Veränderung seines Körpers gedrängt sieht, sich dem Islam oder Judentum zuzuwenden. Und, also mir kommen da Assoziationen an eine Zeit, in der man durch Herunterlassen der Hose die Religionszugehörigkeit festgestellt hat.

Goldmann: Der betroffene Kölner Arzt, selbst ein Moslem, ist ja vom Landgericht freigesprochen worden. Die Begründung: Er hätte "subjektiv guten Gewissens" gehandelt. Trotzdem: Glauben Sie, dass dieses Urteil Mohalim und Mohalot, also Beschneiderinnen und Beschneider, beeinträchtigen wird? Muss man befürchten, falls es mehr solche Urteile geben sollte, dass die Operationen an jüdischen Säuglingen dann wieder "heimlich" durchgeführt werden -oder eben nicht mehr von Ärzten im Krankenhaus, sondern auf dem Küchentisch, und die Babys werden dann mit drei Tropfen Rotwein betäubt?

Konrad: Ja, also momentan sind wir alle geschockt. Und die letzte juristische Auswirkung ist zum derzeitigen Zeitpunkt auch nicht absehbar. Wir erinnern uns, dass es von der Antike bis zur Neuzeit viele Versuche gab, die Brit Mila zu verbieten und das Judentum in seiner Grundfestung zu erschüttern. Das hat bislang nicht geklappt, und ich bin da für die Zukunft optimistisch. Die Juden, die bisher ihre Kinder beschneiden ließen, werden das auch weiter tun. Vielleicht werden einige nach Israel fahren oder in ein benachbartes Land, in dem das noch möglich ist. Aber ich sehe eigentlich die Gefahr, dass man bei Komplikationen, die ja bei jedem Eingriff auftreten können, es kann eine Blutung auftreten, eine Infektion, und dass man aus Angst dann vor einer Kriminalisierung den Arzt nicht mehr aufsucht.

Goldmann: Warum, glauben Sie, ist es gerade jetzt zu diesem Urteil gekommen? Das wurde ja in Arztkreisen ja schon länger diskutiert, gerade im Deutschen Ärzteblatt. Ist das Zufall? Ist es Zeitgeist? Was ist Ihre Meinung?

Konrad: Die Kampagne läuft ja schon seit 2008. Und dieser Kreis um den Juristen Putzke, der arbeitet ja mit Vehemenz daran, die religiöse Beschneidung zu kriminalisieren. Und jetzt ist halt meiner Meinung nach die kritische Masse der Sensibilisierung für das Thema erreicht. Und jeder ist sensibilisiert, traut sich nicht mehr und denkt, er tut was Kriminelles. Für mich steht eigentlich fest, dass das Kölner Landgericht durch ein Verbot der Brit Mila eigentlich das Judentum verboten hat. Und ich weiß gar nicht, ob das dem Gericht bewusst ist. Wir müssen sehr offensiv vorgehen als Juden, denn wenn wir diese Kriminalisierung der Brit Mila nicht verhindern können, haben wir als Juden de facto ein Religionsausübungsverbot, und dann stellt sich tatsächlich die Frage, was wir noch in Deutschland zu suchen haben.

Goldmann: Die Urologin Renate Konrad, Beschneiderin für die Jüdische Gemeinde in Weiden.

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