Verarbeitung von "grauenhaften Menschheitserfahrungen"

Michael Maar im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 20.12.2012
Den Hintergrund für die Märchenstoffe bildete der grausame Alltag der Menschen in Hungersnöten und Katastrophen, sagt der Literaturwissenschaftler Michael Maar. Durch das Erzählen seien diese Grausamkeiten abgemildert und dadurch erträglich geworden.
Matthias Hanselmann: "Hexengewisper", das ist der Titel eines Buches, das der Literaturwissenschaftler und Autor Michael Maar zum Grimm-Jubiläum beiträgt. Er ist verschiedenen Märchen der Grimms auf den Grund gegangen, hat Bezüge zu historischen Ereignissen gefunden, zu älteren Mythen und Ritualen. Außerdem hat er Versatzstücke der grimmschen Märchen bei anderen Schriftstellern gefunden. Ich habe vor der Sendung mit Michael Maar gesprochen und ihn zunächst gefragt, warum denn viele Märchen den Ruf haben, besonders grausam zu sein.

Michael Maar: Ja, das ist eine gute Frage. Märchen sind in der Tat ziemlich grausam. Interessanterweise haben die Brüder Grimm bei ihrer Sammlung, die jetzt das Jubiläum hat, bei den sexuellen Stellen stark zitiert, bei den grausamen Stellen überhaupt nicht zitiert, sondern im Gegenteil fast noch ein bisschen ausgemalt.

Also für die bürgerliche Kultur war es okay, dass Frauen in Fässer gesteckt wurden, die inwendig mit Nägeln beschlagen wurden, und dann von weißen Pferden über Kopfsteinpflaster zu Tode gerüttelt wurden, das war schon okay. Aber dass sich das Kleid wölbt, wenn Rapunzel besucht wird, das war dann schon an der Grenze, das war schon fast zu viel. Da wurde dann also doch auf die Kinder geachtet.

Das beantwortet die Frage nicht, warum die Märchen grausam sind. Meine These, die ich auch in dem kleinen Buch, was ich darüber geschrieben habe, vorstelle, ist, dass – oder um es mit Schopenhauer zu sagen: "Dantes Inferno", woher sollte das denn der Schöpfer haben, als aus der Beobachtung der Wirklichkeit? Und wenn man sich nur ein bisschen die Gräuel zum Beispiel des 30-jährigen Krieges vor Augen führt, dann wundert man sich nicht mehr darüber, welche grausen ... oder die Hexenverfolgung mit ihren Foltermethoden, dann wundert man sich nicht, dass in dieser Zeit Texte entstehen können, die voll von diesen ganz natürlichen Grausamkeiten sind, wie sie dort einfach der Alltag waren.

Hanselmann: Wo tauchen diese Dinge zum Beispiel auf?

Maar: Die tauchen eben nicht direkt auf, sondern ich behaupte, als Reflex, als indirekter Reflex, das kann man nicht nachweisen. Mir scheint, wenn ich so ein Märchen lese wie "Hänsel und Gretel", wo es um Hungersnot geht, wo es um Kannibalismus geht, da müssen historische Hintergründe mit reinschwingen aus einer Zeit, von der wir einfach wissen, aus historischen Quellen, dass es dort zu furchtbaren Hungerkatastrophen kam, und immer in solchen Zeiten von furchtbaren Hungerkatastrophen – das war auch beim Stalinismus so – kam es zu diesen Fällen von Kannibalismus und sogar, das größte und schlimmste Tabu der Menschheitsgeschichte überhaupt, zu Fällen von Kindskannibalismus. Und so was muss mit reinschwingen in so einem Märchen – behaupte ich, beweisen kann man es nicht.

Hanselmann: Sie haben auch etliche Beispiele dafür gefunden, dass Märchen nicht nur grauenhaft, sondern grauenhaft unlogisch sind.

Maar: Das ist nun die Seite an den Märchen, die mich besonders amüsiert hat, sie sind nämlich sehr komisch, und zwar unfreiwillig komisch, muss man sagen. Also schon mit der Psychologie halten es die Märchen nicht so ganz genau, aber mit der Logik halten sie es dann auch überhaupt nicht genau. Also ich meine, man muss sich doch fragen, zum Beispiel bei "Dornröschen": Erstens mal fällt es doch sehr auf, dass ein königlicher Haushalt nun wirklich nur zwölf Teller hat, also haben die nicht vielleicht noch ein zweites Ersatz-Service, das die 13. Fee in Gottes Namen auch noch bewirtet werden kann. Nein, es gibt zwölf, Punkt, danach ist nichts mehr da, lässt sich nichts finden im ganzen Schloss. Oder die Frage, warum die Eltern von Dornröschen, die ja nun wissen, weil es die böse Fee angekündigt hat, dass ihrem Töchterlein im 15. Jahre was Furchtbares droht, dass sie genau ausgerechnet an diesem Tag dann spazieren gehen und ihr Töchterlein alleine lassen und so dergleichen.

Oder noch ein anderes Beispiel, wo es sogar wirklich in die Mathematik geht – mein Lieblingsbeispiel, unter uns gesagt –, das Märchen hat den Titel "Die drei Schlangenblätter", und es geht also um eine Schlange, die zerteilt wurde in drei Teile, und die Idee des Märchens ist, dass man sie wieder zusammenflicken kann, diese Schlange, wenn man auf jede Schnittwunde ein Blatt legt, ein heilendes Blatt legt. Nun stellen wir uns mal vor, wir haben hier eine Schlange vor uns – wie viele Schnitte braucht man, damit die in drei Teile zerfällt? Ich würde schätzen, zwei, aber wie heißt das Märchen? "Die drei Schlangenblätter".

Also selbst mit der einfachen Mathematik hapert es bei diesen Märchen. Das macht sie sehr komisch und sehr amüsant.

Hanselmann: Außerdem sind Märchen naiv, malen ganz stark schwarz-weiß, fast immer nur gibt es Gut und nur Böse, also kaum Charaktere, die beides in sich tragen. Warum ist das so?

Maar: Na, da fragen Sie, warum ist das Märchen, wie das Märchen ist. Das ist genau eines der großen Charakteristika der Märchen, dass sie, wie Sie völlig zu Recht sagen, eben nur schwarz-weiß kennen. Es gibt kaum Ambivalenzen, und es ist vielleicht für die Kinderwelt ganz praktisch, aber man muss ja immer dazu sagen, ursprünglich waren diese Märchen ja nicht für Kinder geschrieben oder sind auch nicht für sie erzählt worden. Das waren dann doch eher die Frauen in den Spinnstuben oder die fahrenden Händler, die das dann von Tür zu Tür erzählt haben. Aber in den früheren Kulturen, aus denen die Märchen ja dann doch stammen, ist diese Vereinfachung und dieses Holzschnittartige eben dann doch auch beim Erzählen einfacher und angenehmer offensichtlich.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", heute mit durchweg märchenhaften Themen aus Anlass des Grimm-Jubiläums. Am 20. Dezember 1812, also heute vor 200 Jahren, erschien der erste Band der Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm. Wir sprechen mit dem Literaturwissenschaftler und Autor Michael Maar. "Hexengewisper" heißt sein Buch zum Grimmjubiläum, Untertitel: "Warum Märchen unsterblich sind". Herr Maar, wieso sind Märchen unsterblich?

Maar: Na ja, ich brauche 100 Seiten, um diese These etwas darzulegen, es ist jetzt in einem Satz nicht ganz leicht, aber vielleicht habe ich ja zwei. Ich behaupte in diesem Buch, dass viele Märchen – nicht alle –, dass in vielen Märchen sich, ich nenne es ein Glutkern sich verbirgt, also irgendetwas, was menschheitsgeschichtlich stark traumatisierend war wie zum Beispiel Kannibalismus, und dass dieser Kern aber abgemildert wird, gewissermaßen eine Art Asbesthaut bekommt, durch eine Geschichte, die sehr gefällig zu hören ist, die immer ein gutes Ende hat, meistens ein gutes Ende hat, und die Kinder verstehen können, aber bei denen die Erwachsenen, die ja diese Märchen erzählen und transportieren, irgendwie spüren, dass da was dahinter steckt, was so furchtbar ist, dass man es eigentlich nicht erzählen kann, aber genau das Furchtbarste drängt danach, besprochen zu werden.

Das wusste auch Freud: Man muss über das Schlimmste reden, aber auf eine Art und Weise, die es eben ertragbar macht. Und das Märchen erzählt von ganz furchtbaren, grauenhaften Menschheitserfahrungen, die zum Teil 3.000 Jahre auch zurückreichen oder eben sozusagen archetypisch sind und immer wieder passieren, in Zeiten von Katastrophen oder von Hungersnöten zum Beispiel, aber sie erzählen es auf eine Art und Weise, die diesen Glutkern gewissermaßen herabmildert auf ein Glimmen. Das ist dann angenehm, es anzufassen, es tut nicht mehr weh. Aber diese Intensität und diese Langlebigkeit kommen unter anderem daher, dass da immer solche Kerne drin verborgen sind. Das ist meine These.

Hanselmann: Man ahnt, dass Dramatischeres dahintersteckt. Herr Maar, Sie schreiben, Märchen sind Meteoriten in der Landschaft der Literatur, und Sie haben mehrere solche Meteoritensplitter entdeckt, einen davon zum Beispiel in Thomas Manns "Zauberberg". Wo taucht er da auf, und welche Funktion hat dieser Meteoritensplitter?

Maar: Der Fall ist ein kleines bisschen komplizierter insofern, als bei Thomas Mann Märchenmotive, gerade im "Zauberberg", aber auch im "Doktor Faustus", noch eine sehr große Rolle spielen. In diesem Falle aber sind es die Kunstmärchen von Hans Christian Andersen, die dort eine große Rolle spielen. Das sind dann nicht nur Splitter, das ist also ein ganzes Minenfeld, wenn man da genau hinschaut, und es geht also so weit, dass ganze Figuren nach Vorbildern aus Andersens Märchen konzipiert werden. Aber wir finden solche Splitter auch bei Kafka oder Vladimir Nabokov oder bei anderen großen Autoren.

Hanselmann: Und speziell jetzt im "Zauberberg", was ist da verborgen?

Maar: Also im Zauberberg finden wir die Märchen "Die Schneekönigin" – gut, das liegt ja nun auch nahe, in diesem verlassenen, hermetischen Schneebezirk –, wir finden den "standhaften Zinnsoldaten", das war das Lieblingsmärchen von Thomas Mann, er hat gesagt, dieser standhafte Zinnsoldat sei eigentlich das Symbol seines Lebens, und diese Figur, das ist der Vetter Hans Castorp, der heißt Joachim Ziemßen, fängt also auch schon mit Zi an, der ist genau nach diesem standhaften Zinnsoldaten gearbeitet, das sieht man dann an Details, wenn man genau hinschaut.

Also man findet fast keine Seite, wo nicht irgendein entfernter Reflex auf ein Andersen-Märchen ist. Diese Andersen-Märchen, von denen hat Thomas Mann gesagt, wenn seine Bibliothek verbrennen würde, würde er als Erstes sich die neu nachkaufen. Und das war der stärkste Leseeindruck seines Lebens überhaupt, noch vor Tolstoi, noch vor Nietzsche, noch vor Schopenhauer – Andersens Märchen. Und das merkt man eben seinem Werk an, wie gesagt, bis hin zum "Doktor Faustus", wo der satanische Komponist oder der mit dem Teufel einen Bund schließende Komponist Adrian Leverkühn eine Liaison hat mit der kleinen Seejungfrau.

Hanselmann: Auffallend ist, dass es auf der einen Seite viele böse Mütter gibt, viele schlaue und gewiefte Frauen, ob es nun Hexen sind oder nicht, jedoch nur recht wenige ebenso schlaue Männer. Nun haben die Gebrüder Grimm ihre Märchen ja nicht in einer matriarchalischen Welt geschrieben, sondern Anfang des 19. Jahrhunderts. Wie erklären Sie sich dieses Frauen- und Männerbild in diesem Märchen?

Maar: Das fällt übrigens schon bei "1001 Nacht" auf, die ich dann später gelesen habe, dass da die Frauen eigentlich fast immer klüger sind als die Männer. Ja, gut, vielleicht ist es einfach Empirie, ich meine, es ist ja möglich. Ich glaube, die Grimm haben natürlich zwar sehr viel dazu erfunden, wie man heute weiß, und ihren Stil auch vor allem diesen alten Geschichten aufgedrückt – zum Glück, das waren ganz große Künstler, auch Sprachkünstler –, aber sie haben es natürlich nicht frei erfunden

Und es ist schon möglich, dass die Märchen dann doch mehr von Frauen kolportiert oder weitergereicht wurden, und deshalb kommen auch die Männer unter uns gesagt nicht so ganz glänzend dabei raus. Also die sind meistens ziemlich unentschlossen beziehungsweise leicht umzustimmen. Es genügt dann, dass die Frau dem Mann ins Ohr wispert, schick doch die Kinder in den Wald, sonst müssen wir Hungers sterben, und schon ist der Mann überredet. Also sie sind nicht besonders schlau, sie sind nicht besonders durchsetzungsfähig, sondern so im Hintergrund ziehen dann doch die Frauen die Fäden, vielleicht ist auch das Empirie.

Hanselmann: Aber interessante These, dass das durch die Überlieferungspraxis entstanden ist. Vielen Dank für das Gespräch!

Maar: Ich danke Ihnen!

Hanselmann: Michael Maar war das über die Märchen der Brüder Grimm und ihre Hintergründe. Das Buch "Hexengewisper – warum Märchen unsterblich sind", das ich sehr empfehlen kann, ist erschienen im Berenberg-Verlag in Berlin und kostet 20 Euro.

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