Venezuela

Mit eigener Spritze zum Arzt

Kunden stehen im Supermarkt in Caracas, Venezuela, vor leeren Regalen.
Kunden stehen im Supermarkt in Caracas, Venezuela, vor leeren Regalen. © picture alliance / dpa
Von Lukasz Tomaszewski · 09.04.2015
Die Versorgungskrise in Venezuela ist dramatisch. Der Staat kollabiert, Unternehmen schließen. Nicht nur bei Lebensmitteln ist die Versorgung mangelhaft, und das lukrativste Geschäft ist der Benzin-Schmuggel ins Ausland.
Es ist acht Uhr morgens in der Stadt San Cristóbal de Táchira im Westen Venezuelas. Im Halbschatten eines Stahlgitters windet sich die kilometerlange Menschenschlange. Eine Imbiss-Verkäuferin preist der wartenden Menge Teigtaschen und Kaffee an. Zwei Männer scherzen, eine Rentnerin nutzt die Tageszeitung als Fächer. Hinter dem Gitter öffnet gerade der staatliche Supermarkt Bicentenario seine Pforten:
Autor: "Entschuldigung: Was gibt es heute zu kaufen?"
Mann: "Bisher nur Milch, gerade haben sie gesagt, dass der Laster mit den Hühnchen auf dem Weg sei."
Autor: "Wie viele Stunden muss man momentan anstehen?"
Mann: "Sie haben schon die Marken verteilt. Ich habe die Wartenummer 110. Es wird wohl den halben Tag dauern."
Acht Stunden pro Woche verbringt ein Venezolaner durchschnittlich in einer Schlange: Auf dem Einkaufszettel stehen meistens Grundnahrungsmittel wie Maismehl, Speiseöl, Milch oder Hygieneartikel des täglichen Bedarfs: Toilettenpapier, Shampoo, Waschmittel. Engpässe gab es immer wieder, doch seit Anfang des Jahres hat sich die Versorgungskrise deutlich verschlimmert. Venezuela geht das Geld aus.
Mann: "Wir sind in Venezuela. Und der Venezolaner muss drei bis vier Stunden in der Schlange stehen, um etwas kaufen zu können. Früher bist du einfach in den Supermarkt gegangen und hast eingekauft. Jetzt nicht. Vor allen Supermärkten gibt es jetzt Schlangen und man muss einfach anstehen. Das Paket Milchpulver kostet 70 Bolivares. Auf der Straße wird sie für 500 weiterverkauft. Verstehst du?"
Autor: "Aha, und wie viele Packungen werden sie kaufen?"
Mann: "Nein, sie verkaufen dir nur eine einzige Packung. Ein Kilo (lacht)."
Die Menschenschlange vor dem Supermarkt Bicentenario in San Cristóbal de Táchira in Venezuela ist kilometerlang.
Die Menschenschlange vor dem Supermarkt Bicentenario in San Cristóbal de Táchira in Venezuela ist kilometerlang.© Lukasz Tomaszewski
70 Bolivares entsprechen in etwa 30 Cent. Im Nachbarland Kolumbien bezahlt man für ein Kilo Milchpulver locker das Fünfzehnfache. Dieser günstige Preis ist nur möglich, weil die Regierung von Präsident Nicolás Maduro viele Lebensmittel, Medikamente und Hygieneartikel stark subventioniert und gleichzeitig die Preise dafür festlegt. Bei der aktuellen Inflation von 67 Prozent sind sie so für viele Venezolaner überhaupt noch bezahlbar. Doch gerade diese Güter werden nun immer knapper. In den staatlichen Supermärkten können die Kunden nur noch an einem Tag in der Woche einkaufen, abhängig von den ersten beiden Ziffern im Personalausweis wird ihnen ein Wochentag zugewiesen. Auch die Mengen werden reglementiert: Pro Einkauf gibt es höchstens eine Packung Milchpulver, zwei Pakete Waschpulver oder drei Flaschen Soja-Öl. Der regierungskritische Wirtschaftswissenschaftler José Guerra sieht die Ursachen für die aktuelle Versorgungskrise in der Wirtschaftspolitik von Ex-Präsident Hugo Chávez:
"Die Nachfrage nach Lebensmittel kann nicht durch die inländische Produktion befriedigt werden. Also muss man auf Importe zurückgreifen um dieses Defizit zu decken. Die Ursachen liegen in der Zerstörung der Produktionskapazitäten die in den Jahren 2006 und 2007 stattgefunden haben. Viele große Landwirtschaftsbetriebe wurden damals enteignet. Heute sind von 100 Kilo Lebensmittel die wir Venezolaner konsumieren circa 50 bis 60 Prozent importiert. Doch die Importe scheitern nun, und das Ergebnis sind diese Schlangen vor den Geschäften."
Im letzten Jahr gaben mehr als 4000 Fabriken auf
Viele der verstaatlichten Betriebe arbeiten heute ineffizient. Das hat gleich doppelt negative Auswirkungen gehabt. Früher haben die Betriebe an den Staat Steuern gezahlt. Heute muss der Staat sie subventionieren. Bei den verbliebenen privaten Betrieben ist die Stimmung sogar noch schlechter. Dem Wirtschaftsverband Fedecámaras zufolge gaben im vergangen Jahr mehr als 4000 Fabriken auf. Sie können einfach nicht zu den von der Regierung festgelegten Preisen produzieren.
Doch die Ursachen der aktuellen Versorgungskrise finden sich nicht nur in der Schwäche der heimischen Produktion und der staatlichen Planwirtschaft – Venezuela ist seit Jahrzehnten stark vom Import abhängig: 70 Prozent aller verbrauchten Waren stammen aus dem Ausland. Das war bisher kein Problem, denn die dafür benötigten Devisen besorgte der Staat aus dem lukrativen Erdölgeschäft. Das südamerikanische Land hat zusammen mit Saudi Arabien die größten Erdöl-Reserven der Welt und fast 95 Prozent der Exporterlöse stammen aus dem Erdöl-Geschäft. Seit dem Preissturz des Barrels auf dem Weltmarkt um mehr als die Hälfte im vergangenen Jahr ist alles anders, meint Wirtschaftswissenschaftler Guerra.
"Durch den Fall des Ölpreises kann sich der Staat nicht mehr finanzieren. Das ist so, als ob eine Person die 2000 Euro verdient, plötzlich gesagt bekommt: Ab jetzt verdienen Sie nur noch 1000 Euro. Es war schon immer das Ziel Venezuelas eine Diversifizierung seiner Ökonomie aufzubauen und nicht so sehr vom Öl abhängig zu sein. Mexiko, Kolumbien und Brasilien fördern Öl, sind aber nicht davon abhängig. Aber für diese Diversifizierung bräuchten wir Reformen und Anreize für Unternehmen anderer Wirtschaftszweige wie dem Agrar-Sektor. Wenn es keine Produktions-Anreize gibt, wird niemand freiwillig wieder das Land beackern."
Die dramatische Abhängigkeit vom Erdöl zeigt sich nirgends so deutlich wie an der venezolanisch-kolumbianischen Grenze im Bundesstaat Táchira. Auf der einen Seite ist das Benzin so günstig wie sonst nirgends auf der Welt. Einmal volltanken kostet im venezolanischen San Cristóbal drei Bolivares, also 1,5 Euro-Cent. Als deutscher Autofahrer reibt man sich beim Anblick dieses Zählerstands an einer Zapfsäule ungläubig die Augen. Der große Gegensatz wartet dann auf der anderen Seite der Grenze. Im kolumbianischen Cúcuta kostet Volltanken etwa 200 Mal so viel. Ein gewaltiger Preisunterschied, der dafür verantwortlich ist, dass tausende Bauern und Handwerker mittlerweile ihre Berufe aufgegeben haben und als "Bachaqueros" – also Benzinschmuggler – arbeiten. Einer von ihnen ist der 46-jährige Ricardo, der seinen vollständigen Namen lieber nicht nennen möchte. Mit einer einzigen Fahrt über die Grenze verdient Ricardo einen kompletten Monatslohn seines Chauffeur-Berufs.
"Das Benzin? Es ist flüssiges Gold. Es dauert zwei Stunden. Ich gebe drüben das Benzin ab und dann habe ich das Geld in meiner Tasche: Mit einem Mal. Gerade haben sie mir gesagt, dass es keine Warteschlange an der Grenze gibt, also fahre ich jetzt los."
Ricardo betankt seinen Wagen, um Benzin nach Kolumbien zu schmuggeln.
Ricardo betankt seinen Wagen, um Benzin nach Kolumbien zu schmuggeln.© Lukasz Tomaszewski
In seiner Garage hat Ricardo immer mehrere Kanister Benzin auf Vorrat gelagert. Wenn Ricardo – wie heute – früher Schluss hat, stellt er einen davon auf das Dach seines Ford Fiesta. Ein Ende seines Gartenschlauchs wandert in den Kanister, das anderen Ende nimmt Ricardo kurz zwischen die Lippen, und saugt an. Nach wenigen Sekunden läuft die kostbare Flüssigkeit in den Tank seines Wagens.
"Das mache ich zwei, drei Mal die Woche. Jetzt haben wir es halb fünf. Um halb sechs bin ich an der Grenze. In 15 Minuten machen sie drüben den Tank leer, ich kehre zurück und das war es."
So wie Ricardo machen es unzählige "Bachaqueros": Den Spitznamen gab den Benzinschmugglern die "Bachaquo", eine fleißige Tropen-Ameise die ihre Beute in kleinen Rationen in ihren Bau schafft. Die 60 Kilometer zwischen San Cristóbal und der Grenzstadt Cúcuta gleichen tatsächlich einer Ameisenstraße. Dicht an dicht drängen sich Motorrädern und PKW durch die zerklüfteten Gebirgszüge. An mehreren Checkpoints werden die "Bachaqueros" von Nationalgarde und Zollbeamten angehalten. Wenn das Codewort "Aguita", also "Wässerchen" fällt, sind 50 Bolivares Wegzoll fällig. Offiziell wird Benzinschmuggel mit bis zu 12 Jahren Gefängnis bestraft.
Kommission möchte Benzinschmugglern das Handwerk legen
Wenige Meter hinter der Grenze wird das Ausmaß des illegalen Grenzhandels sichtbar. An improvisierten Tankstellen, den Ranchitos, wandert das subventionierte venezolanische Benzin in kolumbianische Plastikkanister. Von hier aus wird es ins ganze Land weitervertrieben. Aber auch ganze Berge von Milchpulver, Maismehl, Waschmittel und Zahnpasta aus Venezuela türmen sich in zig Geschäften des kolumbianischen Grenzstädtchens bis an die Decke. Es sind genau die subventionierten Produkte, die von der venezolanischen Regierung so billig für die Armen gemacht werden, aber von genau diesen Bürgern hier teuer und illegal an Kolumbianer weiterverkauft werden. Für "Bachaqueros" und kolumbianische Geschäftsleute gleichermaßen ein blendendes Geschäft. Für den venezolanischen Staat ein Verlust in Milliardenhöhe.
Zurück in San Cristóbal – auf venezolanischer Seite: Auf den Treppen des kolonialen Rathauses singt ein Aktivist der sozialistischen Partei PSUV Lieder vom revolutionären Eifer des verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. Als Publikum dient die lokale Belegschaft die für das Event einen Tag frei bekommen hat. Im Konferenzsaal sitzt seine Parteigenossin Nellyver Lugo. Die Abgeordnete gehört einer Kommission an, die den "Bachaqueros" das Handwerk legen will. Der Arbeitstitel: "Kommission zur Versorgung gegen den Wirtschaftskrieg". Die rüstige Mittfünfzigerin trägt die schwarzen Haare streng zu einem Zopf gebunden. Ihre olivgrüne Dienstjacke vermittelt militärische Entschlossenheit.
"Im Jahr 2005 lag der monatliche Benzinverbrach des Bundesstaates Táchira bei 240 Millionen Liter. Das reicht um das Zehnfache des Bedarfs unseres Automobil-Parks abzudecken. Ein Großteil wurde also rausgeschmuggelt. Deshalb haben wir zunächst die Lastwagen die unsere Tankstellen beliefern mit GPS-Sendern ausgestattet (um illegale Grenzübertritte zu beobachten). Diese Maßnahme brachte uns auf die Idee einer technologischen Kontrolle aller Verbraucher. Wir wollten wissen wie viel und wie häufig sie tanken."
Eine improvisierte Tankstelle, ein "Ranchito", in Kolumbien
Eine improvisierte Tankstelle, ein "Ranchito", in Kolumbien© Lukasz Tomaszewski
So entstand das elektronische Kontrollsystem TAC. Heute klebt an der Frontscheibe aller Fahrzeuge in Táchira ein elektromagnetischer Chip. Dieser informiert ein Lesegerät an der Tankstelle ob das Fahrzeug berechtigt ist, die festgelegte Menge von 15 Litern Benzin am Tag zu tanken. So konnten die lokalen Behörden den Benzinkonsum des Bundesstaates auf ein Drittel reduzieren. Nun steht für Nellyver Lugo und ihre Kollegen der nächste Schritt an. Momentan werden die Supermarkt-Kassen im ganzen Land mit digitalen Fingerabdruck-Scannern ausgestattet. Sie sollen den Einkauf der subventionierten Lebensmittel, Medikamente und Hygieneartikel kontrollieren. Eine groß angelegte Überwachung der Bürger.
"Die Person gibt ihren Fingerabdruck ab und identifiziert sich damit. Die Daten werden gespeichert und mit den Daten auf einem Server synchronisiert. Dieser gibt darüber Auskunft wann der Kunde zuletzt diesen Artikel gekauft hat und ob er zum Einkauf berechtigt ist. Das System deckt Abweichungen auf, die dann auch Ermittlungen nach sich ziehen können."
Mit digitaler Kontrolle seiner Bürger versucht sich der Staat gegen die Mangelwirtschaft zu wehren. Ob Hugo Chávez das kommen sah, als er vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts sprach? Doch Lebensmittelmangel ist nur das spürbarste Problem. Längst hat die Krise auf andere Wirtschaftszweige übergegriffen.
Juan Gorrín ist Reifenhändler in der Hauptstadt Caracas. Seine Eltern sind vor 60 Jahren als spanische Einwanderer ins damals prosperierende Venezuela gekommen. Jetzt denkt der hoch gewachsene Mechaniker selbst über Auswanderung nach. Sein Geschäft steht kurz vor der Pleite.
"Durch die Konfiszierung vieler Privatbetriebe gibt es keine Vorprodukte mehr für die nationale Herstellung von Reifen. Zwei Fabriken mussten schon schließen 'Firestone-Bridgestone' und 'Pirelli'. 'Goodyear' produziert nur noch ein Drittel seiner vorherigen Menge. Mann kann kaum noch mit Reifen handeln, weil es keine mehr gibt. Die Importeure kommen nicht an Devisen ran, um Reifen aus dem Ausland zu holen."
Löhne können Inflation nicht mehr standhalten
Letztes Jahr verkaufte Juan Gorrín noch 1800 Reifen im Monat. Im März 2015 sind es keine 200 mehr. Selbst wenn viele seiner Kunden dringend einen Reifenwechsel benötigen, die meisten können sich ihn nicht mehr leisten. Die Löhne können der gewaltigen Inflation von derzeit 67 Prozent nicht mehr standhalten:
"Die Abwertung der Währung betrifft auch den Geldbeutel des Verbrauchers. Früher konnte man seine Reifen alle 30.000 Kilometer wechseln, heute nicht. Entweder reicht das Geld nicht oder man bekommt gar keine Reifen. Das ist ein wirtschaftliches Problem, das das ganze Land betrifft. Ich bin doch auch Verbraucher. Wir haben uns in eine Tausch-Ökonomie verwandelt. Wenn ich Reifen habe, dann tausche ich sie bei einem Bekannten gegen eine andere Ware, die ich brauche. Wir sind ins 16. Jahrhundert zurückgekehrt und tauschen wieder Spiegelchen gegen Gold."
Der Tauschhandel funktioniert leider nicht in allen Lebensbereichen. Am 10. März eines jeden Jahres wird in Venezuela der Tag des Arztes gefeiert. In diesem Jahr gibt es allerdings nichts zu feiern. Auf dem Rektorenplatz des Universitätsklinikums von Caracas tritt der junge Radiologe José Manuel Olívares mit bebender Stimme vor die Fernsehkameras und gibt Auskunft über die medizinische Versorgungslage:
"Ich möchte heute mit Ihnen Daten teilen, die wir in 198 Krankenhäusern im ganzen Land erhoben haben. Momentan gibt es insgesamt einen Versorgungsnotstand von 67 Prozent an Medikamenten in unseren Krankenhäusern. Zu 61 Prozent mangelt es an chirurgischen Utensilien. Das Uni-Klinikum von Caracas hatte ein ganzes Wochenende geschlossen, weil es keine Narkosemittel, keine Gummihandschuhe, kein Verbandsmaterial gab. Heute müssen 80 Prozent unserer Patienten selbst medizinisches Material mitbringen, um versorgt zu werden. Die meisten von ihnen sind arme Menschen. Sie müssen sich Geld vom Nachbarn leihen und ihr Hab und Gut verkaufen, um Röntgen- oder Laboruntersuchungen zu bezahlen. Oder einfach nur, damit ihr Angehöriger in einem staatlichen Krankenhaus behandelt wird."
Der Radiologe José Manuel Olívares erzählt zehn geschlagene Minuten von einem kollabierenden Gesundheitssystem, das die Grundversorgung nicht mehr sicherstellen kann. Es sind Geschichten vom wichtigsten Kinderkrankenhaus des Landes, das seit einer Woche seine Intensivstation geschlossen hat. Von über 100.000 Venezolanern die auf der Warteliste der staatlichen Krankenhäuser stehen. Und von jungen Kollegen die das Ganze nicht mehr aushalten und auswandern.
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