"Vater" von Miljenko Jergovic

Eine fulminante Mentalitätsgeschichte des Balkans

Blick auf die Burg Medvedgrad über der Stadt Zagreb in Kroatien.
Blick auf Zagreb © imago/Pixsell
Von Jörg Plath · 14.02.2015
Zu seinem Vater hatte der bosnische Schriftsteller Miljenko Jergović zu Lebzeiten kaum Kontakt. In seinem Buch nähert er sich ihm an, sarkastisch, scharfsinnig und spannungsreich.
Auf staunenswerte Weise gelingt es Miljenko Jergović in seinen Büchern, Schicksale von Einzelnen als Teil ihrer Gesellschaft zu schildern. Der rückwärts erzählte Roman "Walnusshaus", die frühen Prosabände "Sarajevo, Marlboro" und "Mama Leone" sowie die drei Autobücher "Freelander", "Buick Riviera" und "Wolga, Wolga" erzählen von Menschen, die wie Intarsien eingesenkt sind in die Träume und die Trümmer Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten im 20. Jahrhundert. Sie ringen mit ihnen und bleiben doch zugleich ihr unveräußerlicher Teil.
Bisher mussten Leser dieses Verfahren allein dem literarischen Können des Autors zuschreiben, der 1966 im bosnischen und multikulturellen Sarajevo als Kroate geboren wurde. Von nun an müssen sie es auch als Konsequenz familiärer Prägungen auf dem Balkan verstehen. Denn Miljenko Jergović schildert in seinem bisher persönlichsten Buch "Vater", dass die jugoslawische und kroatische Geschichte im 20. Jahrhundert eine zutiefst innerfamiliäre Angelegenheit war und auch ihn prägte. "Vater" hebt an mit dem Tod des Vaters Dobro, zu dem der Sohn Miljenko 30 Jahre lang kaum Kontakt hatte. Es ist ein "Abschiedsessay", der sich zu einer fulminanten Mentalitätsgeschichte des Balkan weitet und mit schmerzhafter Genauigkeit im Vater das Eigene freilegt.
Eine Urszene steht am Anfang: Der Vater Dobro, Sohn einer kroatischen, der faschistischen Ustascha anhängenden Familie im von Kroaten, Serben, Muslimen und anderen bewohnten Sarajevo, wird im Zweiten Weltkrieg von Titos Partisanen zwangsverpflichtet. Als der Sohn, an Typhus erkrankt, zurückkehrt, verweigert die Mutter dem Dürstenden das Wasser, hat er doch mit den Kommunisten gegen die Ustascha gekämpft, also Gott und Nation verraten. Dobro überlebt. Er verliert den Glauben an den katholischen Gott, nicht aber die Liebe zur Mutter. Dass Dobro sich später als Arzt aufopferungsvoll einsetzt für jeden Patienten, versteht sein Sohn Miljenko als Kampf gegen Gewissensbisse, als tätige Reue.
Tief in den eigenen Wunden wühlend
Dem Vater ähnelt der schreibende Sohn Miljenko vielfach. 40 Jahre später, in den jugoslawischen Kriegen, verleumden ihn Tudjmans Kroaten, die "Neo-Ustascha", als Serben, weil er als Journalist in Sarajevo gegen Chauvinismus und Kriegshetze anschreibt. Jergović flieht vor der Lebensgefahr nach Zagreb, wo der Atheist erst nach einer widerwillig akzeptierten Taufe einen kroatischen Pass erhält.
"Vater" lässt sarkastisch, scharfsinnig und spannungsreich komponiert Pantoffeln, Alkoholgeschenke und Wäschereigerüche als Bestandteile der Identität sprechen. Jergović rückt der zu Lebzeiten ferne Vater zunehmend näher, denn die Ähnlichkeit zwischen ihnen ist groß. Oft münden die Erinnerungen, mit deren wechselnden Tonlagen die Übersetzerin Brigitte Döbert innig vertraut wirkt, in harte, apodiktische Sätze. Da wühlt einer tief in den eigenen Wunden, auch und gerade dann, wenn er sich eine deutsch anmutende Neukonzeption der kroatischen Nation wünscht, die kollektive Verantwortung für den Völkermord an Serben, Juden und Roma übernehmen solle, statt die Kroaten unter Hinweis auf die Taten der Nachbarn rein zu waschen.
Wie schon im multikulturellen, multiethnischen Sarajevo der Vorkriegszeit ist auch im Zagreb der Gegenwart eine gefährdete Zugehörigkeit die Voraussetzung des Jergovićschen Schreibens – in der Emigration wäre er kein Schriftsteller. Miljenko Jergović schreibt, um das nicht Sagbare auszudrücken und zu verstehen. Etwa, dass eine Mutter ihren todkranken Sohn leiden lässt, weil er Gott und Vaterland verraten habe.

Miljenko Jergović: Vater
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015
201 Seiten, 19,95 Euro

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