Variationen über das Glück

23.07.2013
Katharina Hartwell räumt auf mit dem Vorurteil, dass die am Deutschen Literaturinstitut Leipzig ausgebildeten Autoren zwar das Handwerk beherrschen, erzählerisch aber nichts wagen. Die Autorin fabuliert, komponiert und variiert. Sie liefert ein mutiges, aber überzeugendes Debüt.
Jene Feuilletonisten, die Creative-Writing-Lehrstätten skeptisch gegenüberstehen, werfen den Absolventen des Deutschen Literaturinstituts Leipzig gern vor, dass sie einem reduzierten Raymond-Carver-Stil huldigen und mit dessen Andeutungsprosa jedes erzählerische Risiko scheuen würden. Die 1984 geborene Katharina Hartwell studiert am Leipziger Institut und widerlegt durch ihren Debütroman mit einem Schlag alle Vorurteile über solche vermeintlich gepflegten Stilideale.

Auf fast 600 Seiten fährt Katharina Hartwell nahezu alle Geschütze auf, wechselt gekonnt die Genres und Töne und liefert den – wenn auch nicht in allen Details geglückten – furiosen Beleg für die heilende Kraft des Erzählens.

Zu heilen und zu retten gibt es viel in diesem Buch, das zunächst eine nicht besonders ungewöhnliche Liebesgeschichte zu erzählen scheint. Das Mädchen Marie, das zuerst auf dem Dorf und dann in der Stadt aufwächst, leidet unter Einsamkeit und schwankt, zu welchen Kreisen sie gehören möchte und zu welchen nicht; auch dann als sie ein Studium der Kulturwissenschaften aufnimmt und promovieren will. Erst die Begegnung mit dem Fotografen Jan befreit Marie, und alles scheint bereitet, um eine große, einmalige Liebe zu erfahren. Doch – das enthüllt der Romanschluss in einer ebenso kühnen wie geglückten Konstruktion – das unermessliche Glück droht zu zerbrechen, als Jan Opfer eines Unfalls wird und mit dem Tod ringt. Marie indes will das Schicksal nicht hinnehmen und setzt zu ihrer narrativen Rettungsaktion an: Sie beginnt zehn Geschichten zu erzählen, die mal als Märchen, mal als Science-Fiction, mal als magische Novelle daherkommen, stets von Gefährdungen, Untergängen und Todesängsten handeln und gleichzeitig von der Sehnsucht, diese Qualen zu überwinden.

Diese – wie es in einem poetologischen Einschub heißt – "Sammlung regionaler Legenden" spielt nicht selten an symbolisch aufgeladenen Meeresstränden und variiert die Rahmengeschichte von Jan und Marie. Die Protagonisten dieser Binnenerzählungen tragen alle Namen mit den Anfangsbuchstaben "J" und "M". Anders als in der Fotografie, die in ihrem Prozess eine "Schicht der Seele" zwangsläufig verloren gehen lässt, soll der Roman als Kompositum von Geschichten alle Teile einer Persönlichkeit einfangen.

Die Figuren treten als "Ghostboy" in einem Zirkus auf, der bei seinen Auftritten wie durch Geisterhand dem Tod entrinnt, versuchen sich in einem Luftschiff vor einer Epidemie zu retten, schlagen sich als Ritter durch dunkle Wälder und leben auf abgeschiedenen Inseln. Manchmal liest sich das anstrengend, weil Katharina Hartwell zu sehr darauf vertraut, dass es sich in quasi-surrealen Kontexten leicht bedeutsam raunen lässt, und manchmal führt das literarische Schwelgen dazu, dass gehöriges Pathos ("Ich nahm mir das Leben zu Herzen") aufgetragen wird. Doch am Ende der Lektüre bleibt vor allem Bewunderung für diesen Drahtseilakt, der um jeden Preis belegen will, was die Literatur kann – wenn sie sich denn aus ihren abgesicherten Schlupflöchern hervorwagt.

Besprochen von Rainer Moritz

Katharina Hartwell: Das Fremde Meer
Roman, Berlin Verlag, Berlin 2013. 571 Seiten, 22,99 Euro