Utopia aus den Boxen

Den großen Wandel herbeitanzen

Junge Menschen nehmen am 25.07.2015 in Berlin an einer politischen Demonstration unter dem Motto "Zug der Liebe" durch die Straßen der Hauptstadt teil. Nach Veranstalterangaben solle es keine Neuauflage der Loveparade sein. Erwartet werden rund 20.000 Menschen.
Junge Menschen bei der Demonstration "Zug der Liebe" in Berlin. © picture alliance / dpa / Wolfang Kumm
Von Martin Risel · 22.12.2016
Getanzt bis der Tod kam - so könnte man die Geschichte der Love Parade zusammenfassen. Der Urvater der Love Parade, Dr. Motte, spricht über die Idee, den Planet tanzend zu revolutionieren.
Was für viele vor allem Spaß und Speerspitze einer hedonistischen Weltsicht war, beinhaltete durchaus einen gesellschaftlichen Utopie-Entwurf: die Willensbekundung auf der Straße in einer neuen Form - mit Musik und positiven Botschaften. Sehr schnell wurde das Spektakel zur weltweit größten regelmäßigen Musikveranstaltung.
- "Peace on earth oder Friede Freude Eierkuchen, wie auch immer."
- "Der Sinn der Love Parade ist eigentlich klar: Zu feiern, fröhlich zu sein und mit anderen Leuten gut auszukommen."
- "Spaß haben – das ist wahrscheinlich die ganze Message auch dieser Musik: Spaß zu haben und anderen damit möglichst wenig weh zu tun."
- "Man ist einfach nur verrückt, durchgedreht, durchgeknallt."

Jaja, diese verrückten Raver wussten oftmals gar nicht, dass die ursprüngliche Idee zur Love Parade durchaus politisch-gesellschaftliche Dimensionen hatte, etwa als neue Gegentradition zu den früheren Militärparaden auf Berlins Straßen. Und so wollten im Juli 1989 ein paar Party-Aktivisten auf dem Ku'damm öffentlich tanzen und Liebe propagieren unter dem halbwegs ernst gemeinten Motto "Friede Freude Eierkuchen": Friede für Abrüstung, Freude als Mittel zur Völkerverständigung und Eierkuchen für eine gerechte Verteilung der Nahrungsmittel auf der Welt.

Friede, Freude, Eierkuchen und mehr

150 Freunde des Veranstaltungskomitees kamen und wurden mehr als Spinner belächelt, denn als Pioniere bestaunt. Unter ihnen der junge DJ Kid Paul:

- "Das war 16 Uhr am Wittenbergplatz, und ich weiß noch, dass wir uns dann noch schnell Trillerpfeifen besorgt haben im Europacenter. Und dann ging’s auch schon los."
- "Ein seltenes historisches Ton-Dokument – die wenigen Kundgebungsworte samt Musikfetzen sind einzig dokumentiert auf diesem privaten Videomitschnitt. Zu hören war Love Parade-Erfinder Dr. Motte."
Im Einkaufs-Getümmel der Großstadt wurde kaum wahrgenommen, dass sich mit dieser neuartigen Mischung aus Demonstration, Karneval und Happening die deutsche Gesellschaft verändern würde:
"Was ich immer schön fand: Dass nie jemand ausgeschlossen wird. Also das ist ne ganz offene Veranstaltung, wo die Leute soviel einbringen können wie sie möchten. Und das fand ich immer schön - und wenn man dann sieht, dass es jedes Jahr mehr werden und auch die Begeisterung immer noch da ist, dann muss das offensichtlich ein gutes Konzept sein."
Die Teilnehmerzahlen explodierten schnell bis über anderthalb Millionen. Genau so schnell blühten die Utopien, nicht nur beim langjährigen Love Parade-Veranstalter Ralf Regitz: "Wenn sich die Besucherzahlen weiter so entwickeln, dann tanzt spätestens im Jahre 2005 der gesamte Planet."
Neben der politisch-gesellschaftlichen Dimension gab es natürlich auch eine musikalische. Während Techno zu Beginn noch als stumpfes Bumbum von vielen abgelehnt wurde, wurden Musik und damit einhergehende DJ-Kultur bis Mitte der 90er zum Phänomen für Massen und Mainstream. Und einer wie Paul van Dyk zum deutschen Weltstar.
"Also selbst so althergebrachte Rock’n’Roller wie die Rolling Stones benutzen inzwischen DJs, um ihre Sachen zu remixen", sagt van Dyk. "Und es ist ja schon so, dass diese Musik alle Formen des normalen Poplebens irgendwie so infiltriert hat."
Um diese Techno-Entwicklung vom Underground zum Mainstream geht es in Karsten Wolfs Buch "Berlin Underground": "Ganz große Teile der Technobewegung sind Mainstream geworden und der Mythos ist die Entstehungsgeschichte, der Spirit von '91, als es nur eine Techno-Szene gab, die sich gegen alles andere angegrenzt hat. Und nicht viele Technoszenen, die sich untereinander abgrenzen, um sowas wie 'ne kulturelle Identität zu erfahren."

Die Worte für die politische Identität lieferte Dr. Motte

Seine politische Identität bekam die Love Parade regelmäßig bei den Demonstrations-Ansprachen von Dr. Motte:


"Mit Kriegen löst man keine Probleme. Die Alternative kann nur heißen: Liebe und Respekt, Verständigung und Geduld. Love rules!"
Und als dann Ende der 90er nur noch die gewachsenen Müllberge und Kommerzialisierungs-Tendenzen im Fokus standen, da war das Ende absehbar:

"Ich muss da leider feststellen, dass eigentlich in Berlin niemand die Love Parade wirklich haben will. Man beschwert sich, man kriegt nicht wirklich Unterstützung, die Szene ist dagegen. Das enttäuscht mich ein bisschen", sagt Dr. Motte.
2006 dann der Bruch: Rainer Schaller, Betreiber einer Fitnesskette, kaufte die Rechte an der Love Parade."Drei Millionen kostet die ganze Veranstaltung. Und McFit als Hauptsponsor wird zwei Millionen dazu beitragen. Das hat natürlich auch 'nen Gegenwert, denn wir möchten den Namen international bekannt machen."
Die Folgen sind bekannt: Veranstalter sowie Politik und Behörden in Duisburg waren dem Massenevent nicht gewachsen. Es kam zur Massenpanik: 21 Menschen wurden getötet, über 500 verletzt.
Die Katastrophe von 2010 ist juristisch noch immer nicht aufgearbeitet. Und die Entwicklung der ursprünglichen Love Parade-Idee wird von den Teilnehmern der ersten Stunde unterschiedlich interpretiert:

- "Es wurde ja dann immer mehr zu ‘ner Jugendbewegung mit anderen Werten."
- "Ich sehe das auch, dass das Leute als Volksfest benutzen. Aber das ist doch auch in Ordnung."
- "Nicht bewahrheitet hat sich diese, naja, Love Parade-Geschichte mit 'One world, one love' und so weiter. Aber diese Utopie war auch schon Thema in den 60er Jahren. Und es ist gut, wenn es immer wieder Leute gibt, die das zumindest anstreben."

Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago