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Alte in Arbeit

Arbeit bis ins hohe Alter: Ein Angestellter der Firma "Vita Needle" in Boston
Arbeit bis ins hohe Alter: Ein Angestellter der Firma "Vita Needle" in Boston © Axel Schröder
Von Axel Schröder · 23.05.2014
Bei unglaublichen 74 Jahren liegt der Altersdurchschnitt der Belegschaft einer kleinen Firma in Boston. Der älteste Mitarbeiter ist 95 - und denkt noch lange nicht ans Aufhören. Warum stehen diese Mensche im hohen Alter noch an der Werkbank?
Die faltigen, ledrigen Hände von Bill Ferson halten ein Dutzend spaghettidünner Edelstahlröhrchen, vor ihm rotiert eine tellergroße Schleifscheibe. Fingerspitzengefühl braucht er für seine Arbeit. Und gute Augen. Mit 95 Jahren keine Selbstverständlichkeit.
"Ich kümmere mich um die Spitzen dieser Röhrchen. Und jetzt bringe ich sie auf die richtige Länge."
Im grauen, etwas abgewetzten Arbeitskittel steht Bill Ferson vor der Werkbank. Schlohweißes Haar, moderne Schutzbrille. Sein Arbeitgeber ist die kleine Firma "Vita Needle" bei Boston. Gegründet 1932, ein Familienbetrieb in fünfter Generation. Altersdurchschnitt der 50 Mitarbeiter: 74 Jahre. Zum Einsatz kommen ihre in Handarbeit und meist in kleiner Stückzahl gefertigten Produkte in der Medizintechnik, in der Auto- oder Lebensmittelindustrie. Dicke, dünne, ganz feine Röhrchen, mit glatter, rauer, polierter Oberfläche, gerade, gebogen, spitz oder stumpf. Bill Ferson war mit 65 in Rente gegangen. Aber lange hat er den Ruhestand nicht ausgehalten:
"Ja, ich war schon mal in Rente. Aber das mochte ich nicht. Ich hatte nichts zu tun. Und ich muss etwas zu tun haben!"
Ferson greift sich das nächste Dutzend feiner Röhrchen, schiebt sie mit ruhiger Hand gegen die Schleifscheibe. Fersons Chef Fred Hartman steht hinten in der kleinen Produktionshalle. Rechts und links stehen die Werkbänke mit Bohr- und Schleifmaschinen, Zangen, Schraubendrehern, Messgeräten. Hartman bespricht den nächsten Auftrag mit Anne Pooles.
Arbeitsethos, Qualitätsbewusstsein und Loyalität
Die zierliche weißhaarige Frau ist Mitte Achtzig, feiner rosa Strickpullover, Perlenkette. Sie schiebt kleine Schutzkappen auf die scharfen Spitzen der Metallröhrchen, verpackt sie in Versandtüten. "Vita Needle"-Chef Hartman gehört mit Anfang 60 zu den jüngeren in der Firma. Er erklärt, warum das Unternehmen Ende der 80er-Jahre anfing, ältere Menschen einzustellen:
"Damals ging es der Firma sehr schlecht. Wir hatten gerade Mal eine Handvoll Mitarbeiter und mussten dringend neue Leute einstellen. Und die einzigen, die damals zur Verfügung standen - wir hatten damals eine Rezession - waren ältere Menschen, die ihren Job verloren hatten. Und die suchten Arbeit. Das passte also gut zusammen mit meinen Plänen. Und irgendwann wurde mir klar, dass das Arbeitsethos, das Qualitätsbewusstsein, die Hingabe und Loyalität, die die Menschen dieser Generation mitbrachten, dazu führte, dass wir eine neue inoffizielle Unternehmensphilosophie entwickelten: Genau diese Leute wollten wir einstellen, um vorwärts zu kommen!"
Und das sei gelungen, so Hartman. Die Auftragsbücher sind voll, Personalabbau kein Thema. Angst, dass eines Tages Roboter Arbeitsplätze bei "Vita Needle" ersetzen könnten, müssen sich Hartmans Angestellte nicht machen. Dazu sind die einzelnen Aufträge viel zu verschieden, die Stückzahlen pro Bestellung zu gering. Aber nutzt Hartman, der die Firma mit einem Kompagnon führt, nicht auch die Not der alten Belegschaft aus? Entstanden durch allzu geringe Renten? Hartman schüttelt den Kopf:
"Naja. Ich denke, es ist ein Fehler, wenn man glaubt, dass die Leute nur wegen des Geldes arbeiten. Die meisten unserer Leute hier bekommen ja eine Rente oder andere Sozialleistungen, mit denen sie das Nötigste bezahlen können. Aber ein Arbeitsplatz ist doch nicht nur zum Geldverdienen da. Es ist ein Ort, an dem man seinen Beitrag leisten kann, an dem die Menschen sich auf einen verlassen. Ein Ort, an dem man im Team arbeitet, mit einem gemeinsamen Ziel. Ich glaube, das ist viel, viel wichtiger als der Gehaltsscheck."
Anne Pooles sitzt auf ihrem Drehstuhl an der Werkbank, hört zu und stimmt zu:
"Natürlich hilft das Geld, ganz sicher! Ich kann das Geld gut gebrauchen. Andererseits: ohne diese Arbeit würde ich zuhause sitzen. Und was soll ich da? Vor mich hinvegetieren? Das hier hält mich in Bewegung. Gibt mir Grund, rauszugehen und was zu unternehmen. Deshalb komme ich gern hierher. Die Leute sind toll hier und ich genieße es, mit ihnen zu arbeiten. Ich kriege mit, was es Neues gibt, was in der Stadt passiert. - Es ist schon ein besonderer Ort hier, ganz anders als in anderen Unternehmen. Wir sind schon so was wie eine Familie."
"Bis ich 100 bin, bleibe ich hier!"
Anne Pooles lächelt, dreht ihren Stuhl zur Werkbank, wirft einen Blick auf den nächsten Lieferschein. Zwei Tische weiter sitzen zwei der jungen "Vita Needle"-Mitarbeiter. Eric Pachuates ist 52, Josh Lower erst 25 Jahre alt. Und beide profitieren von den älteren, viel älteren Kollegen:
Pachuates / Lower: "Man kann viel von ihnen lernen! Hört eine Menge Geschichten - über die 'gute alte Zeit'. Man lernt viel über Werte. Viele waren lange verheiratet. Und sie haben so viele Erfahrungen gesammelt in den ganzen anderen Jobs, die sie schon gemacht haben.
Einmal kam Joe zu mir und hat gefragt, ob ich ihm helfen könnte. Es ging um Mathematik, eine komplizierte Frage. Trigonometrie. Und ich hab gleich gesagt: 'Ach, kein Problem, ich zeig Dir die Lösung!' Aber am Ende war das gar nicht so einfach und Joe mit seiner ganzen Erfahrung, hat mir dann gezeigt, wie es geht!"
Dass sie selbst bis ins hohe Alter arbeiten, nein, Josh Lower schüttelt den Kopf, das kann er sich nicht vorstellen. Ihr ältester Kollege, der 95-jährige Bill Ferson, will auf jeden Fall noch ein paar Jahre im grauen Arbeitskittel an der Werkbank stehen, mit der Schleifscheibe die feinen Röhrchen bearbeiten. Noch denkt er nicht an seinen zweiten Ruhestand:
"Nein! Jetzt noch nicht... Bis ich 100 bin, bleibe ich hier. Ja! Mit 100 gehe ich in Rente. Wenn ich zwischendurch nicht sterbe..."
Bill Ferson hebt die Hand, übersät von braunen Altersflecken. Er entschuldigt sich, muss weiterarbeiten. Oder: Will weiterarbeiten.
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