US-Konzept Teach First

Erst mal unterrichten

Der Nachhilfe-Lehrer Jack Sturm und seine Schülerin Zahadatou lernen am 01.03.2013 in einer Nachhilfe-Schule in Hamburg Spanisch. Nachhilfe-Unterricht hilft Schülern versäumten oder nicht verstandenen Schulstoff nachzuholen und besser zu verstehen.
Zusatzpersonal an Schulen: Die Uni-Absolventen gewinnen Einfühlungsvermögen - und die Schüler eine Vertrauensperson. © picture alliance / dpa / Malte Christians
Von Hagen Reiners · 01.09.2014
Vanessa Hübsch ist 26 Jahre alt, Politikwissenschaftlerin, und arbeitet an einer Ganztagsschule in Bonn. Jedes Jahr wählen mehr Studienabgänger wie sie einen solchen beruflichen Umweg und bewerben sich bei "Teach First", einem Tutoren-Programm aus den USA.
"Hallo ihr Drei! Seid ihr zufällig unterwegs zu mir? – Ja! – In K 203. Da könnt ihr auch dahinten die Treppe hochgehen und in den zweiten Stock, der erste Raum rechts."
Wenn ihre Schüler nicht rechtzeitig kommen, geht Vanessa Hübsch sie holen.
Hübsch ist Tutorin, an der Marie-Kahle-Gesamtschule in Bonn. Einer Ganztagsschule, an der es auch um die Erziehung der 580 Schüler geht. Den Job hat ihr eine Organisation vermittelt, die Hochschulabsolventen für zwei Jahre an Schulen in sozialen Brennpunkten einsetzt, bevor sie Karriere machen. "Teach First" heißt das Konzept und kommt aus den USA.
"Sollen wir eins rausziehen? - Ok. Und? – Geben. Versuch es mal! – Ok. – Er. – Er gibt. – Ja, in der Vergangenheit? – Sie gibt. – Ah, das wäre jetzt die andere Person, aber wenn ich sagen will gestern? Gestern in der Vergangenheit. – Sie gibte. – Gab. – Ahhh!"
Nur fünf Kinder sitzen vor Vanessa Hübsch, jedem hat sie eine Karteikarte mit einer anderen Aufgabe gegeben. Jetzt geht sie reih rum. Wie eine Lehrerin. Neben der Nachhilfe bietet sie an der Schule eigene AGs an und ist mit 26 schon so etwas wie eine Vertrauensperson für die Schüler.
"Und was heißt denn jetzt, wenn die Eisbärenmama trächtig ist? Kannst Du das erraten?- Glücklich? – Ne, wenn sie trächtig ist, hat sie die Kinder noch nicht zur Welt gebracht. Das heißt, sie hat einen dicken Bauch. Wie sagt man denn beim Menschen, bei einer Frau, wenn die ihr Kind noch nicht zur Welt gebracht hat, und hat so einen dicken Bauch? (anderer Schüler) – Schwanger – Sag´s mal laut – Schwanger! – Die schwangere Eisbärenfrau. Trächtig sagt man eben bei Tieren."
Bei Einzelnen positive Veränderungen bewirken
Zwei der 10-Jährigen interessieren schwangere Eisbärfrauen nicht, sie reden lieber über Wrestling im Fernsehen. Die Tutorin ignoriert beide Jungs. Das registriert auch die Schulleiterin, Sabine Kreutzer. Sie sitzt in der Nachhilfestunde in der letzten Reihe, macht sich Notizen über ihre Tutorin.
"Die Vanessa bewertet nicht. Für Schüler ist das extrem wichtig. Wenn ich eine Frage zu Deutsch stelle, bei meiner Deutschlehrerin habe ich immer den Filter zu denken, was denkt die von der Frage, wie ist die, was für eine Note kriege ich überhaupt für die Frage, ist das eine blöde Frage jetzt? Das habe ich bei einem Teach First Assistenten nicht. Da kann ich ja wirklich ungehemmt alles fragen. Und das glaube ich, ist ein riesiger Gewinn für die Schülerinnen und Schüler."
Kreutzer ist glücklich über die Kooperation mit Teach First. Hübsch ist bei den Schülern beliebt, macht einen guten Job – und sie kostet die Schule nichts. Das Gehalt von 1750 Euro brutto pro Monat zahlt das Land Nordrhein-Westfalen. Teach First lebt hauptsächlich von Spenden. Mehr als 30 Prozent des Budgets kommt von der Deutsche Post AG, der Deutsche Post Stiftung und der Lanxess Deutschland GmbH.
Vanessa Hübsch: "So liebe Leute, die Stunde ist gleich zu Ende. Bitte legt mir mal Eure Pläne parat, damit ich rumgehen kann und abstempeln kann."
Nach der Stempelrunde hat Vanessa Hübsch frei. Sie lehnt sich an das Pult, atmet durch. Die zwei Jahre an der Gesamtschule im sozialen Problemkiez sind fast rum. Sie würde es sofort wieder machen.
"Man darf sich nicht der Illusion hingeben, man wird die ganze Schule umkrempeln oder man wird jetzt gleich klassenweise irgendwelche verlorenen Schüler zu ihrem Abschluss bringen oder so was. Das ist vielleicht utopisch, aber man kann wirklich bei einzelnen Personen positive Veränderung bewirken."
Das motiviere ungemein, sagt sie und ist sich sicher, dass sie im täglichen Umgang mit den Schülern vor allem ihr Einfühlungsvermögen trainiert hat – und ihr das auch später im Job helfen wird.
Davon ist auch Oliver Hesselmann überzeugt. Der pädagogische Leiter von Tech First Deutschland ist besonders stolz darauf, wie sich die Tutoren, er nennt sie Fellows, in den zwei Jahren an der Schule entwickeln.
"Wir bekommen zurückgemeldet, dass die Fellows etwas ganz Wertvolles bei uns gelernt haben, nämlich wie man mit Teams arbeitet, wie man mit Menschen arbeitet, sie motiviert, wie man interkulturelle Gruppen leitet, unterschiedliche Bedürfnisse dort respektiert und wie man die Menschen für Ziele begeistert. Und das ist ein wertvoller Unterschied, den sie gegenüber Studienabsolventen haben, die vielleicht frisch aus der Universität kommen und sich noch nie an so einer großen Herausforderung ausprobiert haben."
Das Programm boomt
Hesselmann sitzt ein paar Wochen später auf einer Wiese in einem Burghof in der Nähe von Göttingen, dem Austragungsort der Teach First Sommerakademie. Hier werden angehende Tutoren fit gemacht für ihren Einsatz an den Schulen. Erarbeiten eigene Unterrichtskonzepte und erproben diese in Rollenspielen.
Hesselman strahlt. Das Programm boomt. Für das kommende Schuljahr haben sich über 1000 Studienabgänger beworben, 80 haben eine Zusage bekommen.
Und die gilt es stark zu machen, als Team einzuschwören. Deshalb stößt Hesselmann auf der Wiese, bei Frisbee und frischem Eistee immer wieder Gespräche an, damit sich die Teilnehmer noch besser kennenlernen. Sich austauschen über ihre ganz individuellen Ansprüche an das Programm, ihre Ziele an der jeweiligen Schule, ihre Visionen – aber auch über ihre Ängste.
"…. und diese Kultur muss so stark sein, dass wenn sie nach diesem Sommertraining in die Schule gehen, wo sie ja einzeln unterwegs sind, dass sie trotzdem immer diesen Rückhalt haben, Teil eines Teams zu sein, Teil einer Gemeinschaft, die ähnliche Ziele verfolgt, eine gemeinsame Vision hat und ihnen den Rücken stärkt."
Dabei hilft natürlich auch Singen. Teil der nächsten Übung der angehenden Tutoren …
"Heute singen wir zusammen, heute ist ein schöner Tag,
heute singen wir zusammen, heute ist ein schöner Tag,
das Teach First Deutschland Klassenzimmer,
das Teach First Deutschland Klassenzimmer."
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